Das Geld regiert die Welt – oder es dient ihr.
Autorinnen/Autoren: Philippe Mastronardi und Peter Ulrich
Von Kontrapunkt* vom 24. Oktober 2011
Die Staaten haben die Finanzmärkte in die Freiheit entlassen, ohne ihnen Verantwortung zu überbinden. Nun nehmen die Finanzmärkte die Staaten in die Verantwortung. Das Geldsystem herrscht über das politische System. Unter dem heutigen Finanzmarktregime wird sich das nicht ändern. Erst wenn sich Geld nur noch im Rhythmus der wirtschaftlichen Realentwicklung vermehren lässt, können spekulative Finanzblasen verhindert werden und stabile Verhältnisse einkehren.
Es musste so weit kommen, dass eine Ratingagentur ihr Urteil über die Weltmacht USA fällt, bis uns die Einsicht dämmert, wie verkehrt unsere gegenwärtige Wirtschaftswelt ist. Da entscheidet tatsächlich eine private Firma über die Vertrauenswürdigkeit eines grossen Staates und begründet ihr Urteil etwa damit, es genüge nicht, die Sozialprogramme nur an den Rändern zu beschneiden; sie müssten grundsätzlich reformiert werden. Je nach Belieben könnte die Begründung auch ganz anders lauten, da die urteilende „Instanz“ frei von jeder öffentlichen Rechenschaftspflicht walten kann. Das amerikanische Finanzministerium wehrt sich zwar verbal gegen die Verurteilung, findet aber kein Gehör. Die Herrschaft des Ratings kennt keine demokratischen oder rechtsstaatlichen Prozeduren der Gewaltenteilung – sie steht also offenbar über ihnen und ist nicht verhandelbar. Die Wahrheit wird von selbsternannten Experten verfügt. Diese folgen der Logik des Finanzmarktes, nicht der öffentlichen Vernunft.
Dass die Finanzmärkte zunehmend die Realwirtschaft steuern, ist spätestens mit der Finanzmarktkrise von 2008 unübersehbar geworden. Heute wird darüber hinaus klar, wie weitgehend sie auch die Politik der Staaten beherrschen. Eine neue Weltordnung hat sich durchgesetzt: Die höchste Macht kommt den Prozessen an den Finanzmärkten zu, gefolgt von den Entwicklungen in der Realwirtschaft und schliesslich den politischen Prozessen in und zwischen den Staaten. Die Staaten konkurrieren im internationalen Standortwettbewerb um die günstigsten – sprich: privatwirtschaftlich gewinnbringendsten – Investitionsbedingungen. So ist aus der notwendigen staatlichen Ordnung des Wettbewerbs ein fast regelloser Wettbewerb zwischen den staatlichen Rahmenordnungen geworden. Nun bestimmen die Kapitalverwertungsinteressen von Anlegern, Unternehmern und Managern weitgehend darüber, was ordnungspolitisch „möglich“ und „notwendig“ ist. Und da die „Finanzindustrie“, die genau genommen gar nichts produziert, diesen Kapitalverwertungsinteressen naturgemäss am nächsten steht, dominiert sie über die Realwirtschaft. Diese ist zur Finanzierung ihrer Geschäftsprozesse von einer funktionierenden Geld- und Kreditversorgung und kostengünstigen Finanzdienstleistungen abhängig. Aber diese ursprünglichen Aufgaben im Dienste der Volkswirtschaft stehen längst nicht mehr im Zentrum der Finanzwirtschaft, vielmehr versteht sie sich in erster Linie als privatwirtschaftliche Branche, die mit ihren „Finanzprodukten“ möglichst ohne den Umweg über die Realwirtschaft „Geld macht“.
Aus genau diesem privatistischen Verständnis heraus ist die Finanzwirtschaft von den meisten Staaten in den vergangenen 30 Jahren weitgehend dereguliert worden, so dass sie kaum noch Beschränkungen unterliegt. Die Macht des Geldes untersteht keiner normativen Verfassung mehr. Als Rechtfertigung für die Entfesselung der Finanzmärkte diente regelmässig das Argument, dass damit der gesamten Volkswirtschaft neue Dynamik verliehen würde. Bewirkt wurde – von gewaltigen Einkommens- und Vermögensumverteilungen von den Besitzlosen zu den Besitzenden ganz abgesehen – vor allem eine grundsätzliche Instabilität, die in Krisensituationen politisch kaum mehr beherrschbar ist. Denn die Finanzmarktakteure können jederzeit gegen missliebige Regulierungsansätze mit der Abwanderung an weniger regulierte Standorte drohen und damit die nationalen Regierungen erpressen. So ist die Finanzwirtschaft nahezu keiner (Gegen-)Macht mehr verantwortlich, zieht aber ihrerseits alle andern Mächte zur Verantwortung. Der Satz, wonach das Geld die Welt regiere, gilt radikaler als je zuvor: Neben den einzelnen Kapitaleignern meint er nun auch das globalisierte Finanzsystem als Ganzes. Die persönliche Macht der Geldbesitzer wird durch die systemische Macht einer masslos kapitalistischen Ordnung überlagert.
Dementsprechend hilflos wirken unter diesen Bedingungen die Bemühungen der Regierungen zur Krisenbewältigung. Die Forderungen der Finanzwelt sollen im je nationalen Kampf um Sparmassnahmen vorwiegend auf dem Rücken von Arbeitenden und Steuerzahlern befriedigt werden, ohne dass sie auf ihre Legitimität hinterfragt werden. Das läuft allzu oft auf Raubbau am gesellschaftlichen Kitt der Solidarität hinaus und zerstört damit den demokratisch grundlegenden Zusammenhalt der Bürgerschaft. Vom sonst so gern postulierten Verursacherprinzip ist aufgrund der skizzierten verkehrten Machtverhältnisse kaum die Rede, wenn es die Finanzbranche betrifft. Ganz im Gegenteil hat das alte Diktum von der Privatisierung der Gewinne und der Sozialisierung der Verluste eine vor der Finanzkrise so kaum gemeinte Bedeutung erhalten.
Nichts anderes sind die meisten Massnahmen zur Stützung der systemrelevanten Banken – man denke an die Übernahme ihrer „Schrottpapieren“ durch die Zentralbanken, die sogenannten „Rettungsschirme“ und „quantitative easing“-Programme (Vergrösserung der Geldmenge mittels Ankauf von Staatsanleihen, Devisen usw.). Wenn auch nicht allein deshalb, so doch zu einem wesentlichen Teil ist deswegen die öffentliche Schuldenlast vieler Staaten sprunghaft angestiegen. So ist aus der Finanzmarktkrise eine nur mehr schwer einzudämmende internationale Schuldenkrise geworden.
An der Wurzel angepackt hat die internationale Politik das Übel bisher nicht. Man begnügt sich mit immer weiteren, zum Teil hilflos anmutenden Symptomtherapien. Systeminterne Retuschen verschaffen aber höchstens einen Zeitgewinn und verschieben den gefürchteten Zusammenbruch des Systems auf einen späteren Zeitpunkt, in dem er vermutlich noch heftigere Wirkungen zeitigen wird. Gewiss sind die Staaten teilweise selbst dafür verantwortlich, dass sie sich in so hohem Masse verschuldet haben: Sie haben opportunistisch versucht, im Standortwettbewerb von der Dynamik der Finanzwelt zu profitieren. Damit haben sie sich von dieser abhängig gemacht, statt ordnungspolitisch vorbeugend für kontrollierbare Verhältnisse mit begrenzten Risiken zu sorgen. Aus diesem Teufelskreis gilt es auszubrechen.
Diese knappe Analyse zeigt bereits, dass eine tiefer greifende Systemreform nötig ist. Es braucht eine globale Finanzmarktverfassung, welche die aufgeblähten Finanzmärkte wirksam an die Entwicklung der Realwirtschaft zurückbindet und die Staaten nicht weiter Spielball der finanziellen Spekulation sein lässt.
Wie kann das Geld vom Herrn zum Diener der Welt gemacht werden? Die Staaten müssen die Geld- und Kreditversorgung als volkswirtschaftliche Infrastruktur begreifen und ernst nehmen. Nötig ist eine grundsätzliche Reform der Finanzmarktverfassung, die auf folgenden konzeptionellen Grundlagen beruht:
(1) Die Versorgung der Wirtschaft mit Geld und Kredit ist eine öffentliche Aufgabe: Der Finanzmarkt ist kein gewöhnlicher Markt, in dem die Privatautonomie jedes einzelnen Teilnehmers das höchste Gut ist, sondern ein öffentlicher Raum, in welchem eine grundlegende volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Aufgabe zu erfüllen ist. Die Finanzbranche hat einen Service Public zu erbringen.
Die moderne Geldwirtschaft kann nur auf der Grundlage einer Staatsverantwortung für die Versorgung mit Geld und Kredit funktionieren. Was ökonomisch als Markt begriffen wird, muss rechtlich und politisch als Staatsaufgabe gestaltet werden. Wie viel von dieser Staatsaufgabe mit marktnahen Mitteln und durch private Akteure wahrgenommen werden kann, soll demokratisch entschieden werden.
(2) Das herkömmliche Aufsichtsmodell – das Konzept staatlicher Kontrolle über den Markt – ist abzulösen: Nach dem Paradigma des „freien Marktes“ wurde bis anhin der Finanzmarkt auf der Grundlage eines Aufsichtsmodells geregelt: Im Grundsatz galt für alle Akteure die Wirtschaftsfreiheit. Der Staat übte lediglich eine polizeiliche Aufsicht aus, um Missbräuche oder schädliche Auswirkungen zu verhüten oder zu beheben. Dabei folgte er der Problementwicklung immer nur reaktiv und korrektiv, ohne die tiefer liegenden Ursachen und ihre Dynamik je in den Griff zu kriegen. Finanzmarktkrisen waren nach diesem Modell hinzunehmen, weil sie den Preis der Wirtschaftsfreiheit bildeten. Sie konnten lediglich Anlass dazu sein, die Aufsicht zu verschärfen und die Rahmenbedingungen zu stärken.
Die Frage, ob das Aufsichtsmodell versagt habe, konnte aus dieser Warte gar nicht gestellt werden, weil keine Alternative dazu erkennbar war. Das ist bei jedem Paradigmenwechsel so: Das alte Paradigma verhindert die Neuerung, bis das neue Paradigma evident wird.
(3) Die zukünftige Finanzmarktverfassung hat sich am Gewährleistungsmodell zu orientieren: Wenn die Versorgung der Wirtschaft mit Geld und Kredit eine Staatsaufgabe ist, ist sie von vornherein als öffentliche Infrastrukturleistung zu gestalten, ähnlich wie beispielsweise das Rechts-, das Bildungs-, das Verkehrs- und das Energieversorgungssystem. An die Stelle des Aufsichtsmodells tritt damit das Gewährleistungsmodell: Der Staat gewährleistet die Versorgung der Wirtschaft mit Geld und Kredit unter Beiziehung Privater.
Was bedeutet dieses Gewährleistungsmodell? Es umfasst drei Teilverantwortungen, die zwischen Staat und Privaten aufgeteilt werden können: Der Staat hat einen funktionierenden Finanzmarkt zu gewährleisten, welcher die Versorgung der Wirtschaft mit Geld und Kredit sicherstellt (Gewährleistungsverantwortung). Er kann damit private Dienstleister beauftragen, welche die öffentliche Aufgabe nach den staatlichen Vorgaben und Zielen zu erfüllen haben (Erfüllungsverantwortung). Versagen die Privaten in ihrer Leistungspflicht oder überschreiten sie die Grenzen ihres Mandats, kann der Staat die Aufgabe wieder an sich ziehen oder Dritten übertragen (Auffangverantwortung).
Staatsaufgabe bedeutet also nicht Verstaatlichung! Gemäss dem modernen Konzept der Public Governance können öffentliche Aufgaben in unterschiedlichster Weise durch ein Zusammenspiel des Staates mit Privaten erfüllt werden. Umfassend ist nur die Staatsverantwortung für die Erbringung einer gemeinwohldienlichen Leistung. Inwieweit der Staat diese Leistung selbst erbringt, ist Sache der konkreten Ausgestaltung. Diese ist demokratisch zu bestimmen.
Im Bereich des Finanzmarktes wird eine Aufgabenteilung zwischen einer autonomen staatlichen Instanz (der Zentralbank, in der Schweiz „Nationalbank“ genannt) und der privaten Finanzbranche zu suchen sein. Die Erfahrung zeigt freilich, dass der Zentralbank wesentlich mehr Kompetenzen zugesprochen werden müssen als bis anhin.
(4) Im Finanzbereich ist der Vorrang der Demokratie vor der Wirtschaftsmacht durchzusetzen: Die Staaten müssen den Banken die private Geldschöpfung wieder entziehen. Denn heute entsteht neues Geld zum grössten Teil durch Kreditschöpfung, indem sich jemand bei einer Bank verschuldet. Aufgrund der geringen Eigenmittelanforderungen können die Geschäftsbanken auf diesem Weg riesige Volumen an sogenanntem Buchgeld schaffen, das heute grossenteils spekulativen Zwecken auf den Finanzmärkten dient. Deshalb haben die Zentralbanken die Kontrolle über die Geldmenge verloren. In Zukunft soll auch Buchgeld – wie die Münzen und Banknoten – gesetzliches Zahlungsmittel sein, das nur von der Zentralbank geschöpft werden kann (sogenannte Vollgeldreform). So wird das gesetzliche Geldmonopol wiederhergestellt. Die Zentralbank (Nationalbank) gibt so viel Geld in Umlauf, wie es die Entwicklung der Volkswirtschaft erfordert. Damit sorgt sie dafür, dass die Geldmenge das Volumen der Realwirtschaft abbildet. Den Banken verbleibt die Verteilung und Verwaltung des Geldes: der Zahlungsverkehr, die Kreditvergabe (soweit sie vom Vollgeld abgedeckt ist), sowie Finanzdienstleistungen für die Realwirtschaft und die Vermögensverwaltung für Private.
Die Zentralbanken bestimmen auch die Grenzen der zulässigen Wirtschaftstätigkeit der Finanzbranche. Sie unterstellen bestimmte Tätigkeiten einer Bewilligungspflicht und verhindern volkswirtschaftlich schädliche Finanzprodukte. Sie verbieten z. B. Wetten auf die Zahlungsunfähigkeit von Staaten.
Zu diesem Zweck werden auf nationaler Ebene verfassungsrechtliche Regelungen nötig, die klarstellen, welche Entscheide demokratisch zu treffen sind, welche an die Zentralbank delegiert werden sollen und welche der Finanzbranche anvertraut werden dürfen.
Das Geld kann zum Diener der Welt gemacht werden, sobald wir erkennen, dass es uns zu versklaven droht. Geld macht frei, aber nur, wenn wir es unserer demokratischen Verantwortung unterstellen.
* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: kontrapunkt, der zurzeit 27-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Prof. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Dr. oec. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Beat Sitter-Liver, Praktische Philosophie, bis 2006 Universität Freiburg (Schweiz); Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel, Liliana Winkelmann, M.A., Universität Zürich.Die beiden Autoren sind emeritierte Lehrstuhlinhaber an der Universität St.Gallen: Philippe Mastronardi für öffentliches Recht, Peter Ulrich für Wirtschaftsethik.