Kann die Demokratie den Kapitalismus neu verfassen?

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Von Kontrapunkt* vom 24. Juli 2014

Die Bankenwelt erweist sich als lernunfähig. Das Krisenrisiko ist seit 2008 eher noch gewachsen. Wenn die CS im vergangenen Mai den Entzug der Lizenz in den USA nicht mit einem Schuldbekenntnis und einer Busse von 2,5 Mrd. Franken hätte verhindern können, stünden wir heute wohl vor einem zweiten Fall der Bankenrettung im Stil der UBS aus dem Jahre 2008. Der Finanzkapitalismus lässt sich offenbar nicht durch interne Einsicht reformieren, sondern muss von aussen neu verfasst werden. Das kann nur auf demokratischem Wege geschehen. Angenommen, diese Analyse stimmt: Hat die Forderung nach demokratischer Verfassung des Kapitalismus denn überhaupt eine Chance?

Um es vorweg zu nehmen: Wenn wir Kapitalismus und Demokratie als soziale Systeme verstehen und nur das rein faktische Machtverhältnis zwischen ihnen zum Massstab unserer Antwort machen, hat die Demokratie keine Chance. Allerdings ist das eine zu enge Perspektive. Wir müssen sie um die normative Dimension der beiden gesellschaftlichen Systeme erweitern und nach ihrem legitimatorischen Verhältnis fragen. Auf der einen Seite steht dann der Kapitalismus als normatives Prinzip für die Ordnung unserer Wirtschaftsweise, auf der andern Seite die Demokratie als konkurrierendes Prinzip für die Gestaltung unseres öffentlichen Zusammenlebens. Die Frage lautet dann: Ist der so verstandene Kapitalismus hinreichend von einer Legitimation durch die Demokratie abhängig, dass er sich demokratisch verfassen lassen muss, wenn die Bürgerschaft das verlangt?

Das normative Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus

Im Folgenden soll versucht werden, Demokratie und Kapitalismus als normative Prinzipien in ihrem Verhältnis zu analysieren und daraus Schlüsse zu ziehen.

Politik und Wirtschaft – oder Staat und Markt – werden in unserem Denken oft als zwei getrennte soziale Systeme oder Handlungsbereiche verstanden, die unterschiedliche Funktionen erfüllen und gegensätzlichen Handlungsprinzipien folgen. Im Markt darf jeder sein Glück nach eigenem Gutdünken zu maximieren suchen, im Staat hingegen soll das grösstmögliche Glück für alle – also in gerechter Verteilung – angestrebt werden. Für viele war bis zur Finanzmarktkrise von 2008 klar: Der Markt stellt das allgemeine Glück besser her als der Staat. Heute ist dieser Glaube erschüttert. Auch Marktgläubige müssen eingestehen, dass der Markt uns ohne Bändigung durch den Staat in immer tiefere Krisen stürzt. Daher geht es jetzt um die Wiedergewinnung der politischen Dimension unserer Lebensgestaltung: Wir müssen das Demokratieprinzip zum Massstab eines Ordre Public machen, der eine gemeinwohlförderliche Wirtschaft garantiert. Eine Politik, welche sich am Demokratieprinzip orientiert, verdient im Konfliktfall den Vorrang vor einer Wirtschaft, welche sich am Prinzip des Kapitalismus ausrichtet. Das ist der eigentliche Sinn der These vom Primat der Politik vor der Wirtschaft.

Die Titelfrage erfordert somit ein differenziertes Verständnis von „Demokratie“ und „Kapitalismus“. Die schlagwortartige Verwendung dieser Begriffe vermischt die Dimensionen von Faktum und Norm, System und Handlungsorientierung. Als Realität lassen sich beide Konzepte als mangelhaft kritisieren, als Ideale üben sie beide eine grosse Anziehungskraft aus. In der wirtschaftspolitischen Debatte herrscht die Unsitte, das eigene Ideal mit der mangelhaften Realität des gegnerischen Standpunktes zu vergleichen. Die Klärung, die hier versucht werden soll, muss versuchen, die normative Dimension und die systemische Dimension analytisch voneinander zu unterscheiden – aber trotzdem zu verknüpfen. Darin sind zwei methodische Schritte enthalten: (1) eine analytische Differenzierung und (2) eine hermeneutische Integration.

  1. Analytisch zu differenzieren sind insbesondere die Legitimationsbegriffe: Aus der normativen Perspektive des Teilnehmers sind Kapitalismus und Demokratie auf ihre Legitimation im ethischen Sinne zu hinterfragen: Mit welchen ethischen Gründen lassen sich die beiden Prinzipien rechtfertigen? Aus der faktischen Perspektive des Beobachters sind die beiden Systeme auf ihre Legitimation im soziologischen Sinne zu untersuchen: Welche faktische Anerkennung (Akzeptanz) durch die Betroffenen trägt die beiden Systeme?
  2. Hermeneutisch zu integrieren sind Norm und Faktum sodann durch den Wechselschritt der beiden Perspektiven des Teilnehmens und des Beobachtens: Der Sinn der Beobachtung muss aus der wertenden Perspektive des Teilnehmens erschlossen werden – das wertende Urteil des Teilnehmenden muss sich auf die Erkenntnis des Beobachtenden abstützen: Erst zusammen ergeben ethische Rechtfertigung und faktische Akzeptanz ein sinnvolles Verständnis von Kapitalismus und Demokratie – insbesondere, wenn es um ihr gegenseitiges Machtverhältnis geht.

Im Folgenden soll der Schwerpunkt auf die normative Perspektive gelegt werden, die in der Debatte oft implizit bleibt, weil Machtfragen gerne auf ihren faktischen Aspekt reduziert werden. Das normative Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie wird in der öffentlichen Debatte wenig reflektiert. Es ist der eigentliche „Blinde Fleck“ in unserem Verständnis der beiden Konzepte.

Die ordnungspolitische Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus

Demokratie meint daher im Folgenden primär das normative Prinzip, welches politische Machtausübung dadurch legitimiert, dass die von einer Entscheidung Betroffenen als Gleichberechtigte an der Herstellung der Entscheidung beteiligt sind. Sie fordert die gegenseitige Anerkennung und Verantwortung unter Menschen, weil sie Träger von Menschenwürde und öffentlicher Autonomie sind. Kapitalismus meint seinerseits das normative Prinzip, welches wirtschaftliche Machtausübung dadurch legitimiert, dass sie auf der Ausübung des Rechts auf Eigentum beruht, das in einer liberalen Gesellschaft allen gleich zusteht, aber kraft der Freiheit des Individuums und der unterschiedlichen Herkunft, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftskraft der Menschen ungleiche wirtschaftliche und soziale Stellungen rechtfertigt. Demokratie und Kapitalismus begründen in ihrer normativen Dimension gegensätzliche Handlungsnormen unseres Zusammenlebens.

Diese Handlungsnormen stehen freilich nicht in beliebigem Verhältnis zu einander. Unser Zusammenleben braucht eine ordnungspolitische Hierarchie: Zuoberst die Grundsätze der Gesellschaft, darunter jene der Politik und zuunterst jene der Wirtschaft. Nach welchen Grundsätzen wir zusammenleben wollen, soll unsere Gesellschaft entscheiden. Sie schafft die Institutionen und Normen, nach denen wir uns im Zusammenleben miteinander richten sollen. Sie liefert auch die Vorbilder für die ethischen Anforderungen, die wir an uns selbst als Individuen stellen. Vieles, was gesellschaftlich bestimmt wird, geschieht informell, durch Konvention und Wandel in der Lebensform. Gesellschaftliche Normen sind zwar ihrem Inhalt nach im ethischen Sinne normativ, aber sie nehmen meist die Form sozialer Normen im Sinne von Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten an. Die Gesellschaft muss aber immer dann zu formellen Regeln greifen, wenn sie Probleme lösen muss, die eine Gefahr für ihre Normen und Werte darstellen. Heute ist der Finanzkapitalismus eine solche Gefahr. Daher ist die Gesellschaft aufgerufen, zur Macht des Kapitalismus (hier als System) eine Gegenmacht aufbauen. Dazu muss sie zu Politik und Staat greifen. Nur politisch kann sie bestimmen, welche Rolle der Kapitalismus für das Ziel des gesellschaftlichen Gemeinwohls spielen soll. Die Demokratie ist ihre Chance, verbindlich festzulegen, in welchem Verhältnis Wirtschaft und Politik zu einander stehen sollen. Das ist die Grundfrage des Ordre Public – der Verfassung unseres öffentlichen Zusammenlebens.

Die Antwort, die der Ordre Public auf die Machtfrage geben soll, muss die Systemebene von Demokratie und Kapitalismus mit der normativen Ebene der je massgeblichen Prinzipien verknüpfen und den Konflikt auf seine ethischen Grundfragen zuspitzen: Was soll nach wirtschaftlichem Nutzen, was nach politischer Solidarität entschieden werden? Die kapitalistische Wirtschaftsweise orientiert sich einzig an Fragen der individuellen Nützlichkeit. Für sie gilt der Mensch als Interessenträger. Er wird durch seine Bedürfnisse gesteuert und versucht seinen Eigennutz zu optimieren – wobei der Nutzen auch immaterieller Natur sein kann und jede Art von Glück erfasst. In diesem Nutzendenken geht etwas Zentrales vergessen: die Machtfrage. Wenn ich meinen Nutzen steigere und im Wettbewerb gewinne: übe ich dann nicht unweigerlich Macht aus über andere, die dabei verlieren? Diese Frage nach der Macht orientiert sich am Prinzip der Gerechtigkeit. Sie sieht im Menschen nicht nur einen Interessenträger, sondern auch einen Träger von Rechten und Pflichten. Hier geht es um den Machtausgleich unter Gleichberechtigten. Die Freiheit des Wettbewerbs ist nicht die ganze Freiheit. Ohne Gleichheit und Solidarität gibt es zwar Macht, aber keine Freiheit. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind die Errungenschaften der bürgerlichen Revolution. Sie legitimieren seither die moderne Gesellschaftsordnung und definieren unseren Ordre Public. Der Staat muss diesen in Politik und Wirtschaft gleichermassen gewährleisten.

Oft verstehen wir Freiheit als individuelle Willkür und vergessen ihre Bindung an Gleichheit und Solidarität. Wir machen uns dann nicht bewusst, dass wir unsere Freiheit zu einem guten Teil dem Wohlergehen der Gesellschaft verdanken, in der wir leben dürfen. Richtigerweise sollten wir Freiheit – insbesondere Wirtschaftsfreiheit im kapitalistischen Wirtschaftssystem – wieder mit Gleichheit und Solidarität in Einklang bringen. Dazu brauchen wir Institutionen, welche den individuellen Egoismus in Strukturen der Gleichheit und der Solidarität einbinden. Wir brauchen das Recht als Institution zur Schaffung von Verpflichtungen und von Verantwortlichkeit, auch als Pflicht der Gewinner am Markt gegenüber den Verlierern.

Im Kern geht es darum, dass dem Marktprinzip, wonach jeder Franken gleich viel zählt, das Demokratieprinzip entgegengehalten wird, wonach jeder Mensch gleich viel zählt. Das ist etwas anderes als sozialstaatliche Kompensation der sozial schädlichen Folgen des kapitalistischen Wirtschaftens. Es geht darum, die Funktionsweise des Kapitalismus selbst in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Leistung und Verdienst – Kernbegriffe für die ethische Legitimation unserer Wirtschaftsordnung – sind nie einem Einzelnen allein zuzurechnen, sondern immer das Resultat von Vorleistungen und Verdiensten anderer Menschen sowie der Gesellschaft. Ertrag und Gewinn des Einzelnen lassen sich nur rechtfertigen, wenn sie sich politisch und gesellschaftlich legitimieren lassen. Der wirtschaftliche Nutzen des Einzelnen ist der Gemeinschaft gegenüber rechenschaftspflichtig. Der Massstab dieser Rechenschaftspflicht ist die Trias der bürgerlichen Werte von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Das Verfahren dieser Rechenschaftsablage ist der demokratische Entscheidungsprozess.

Normativ ist somit die Demokratie (als ordnungspolitisches Prinzip) herausgefordert, die Spannung zwischen dem Kapitalismus (als Prinzip wirtschaftlichen Handelns) und den bürgerlichen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Solidarität in ein vernünftiges Verhältnis zu bringen. Ist die Demokratie aber dazu in der Lage? Hat das vom Demokratieprinzip geleitete politische System gegenüber der Macht des Kapitalismus (als System) in unserer modernen Gesellschaft eine Chance?

Die Machtfrage

Diese Frage erscheint zunächst als eine blosse Frage der faktischen Macht. Welches Konzept wirkt als die stärkere soziale Kraft? So betrachtet, geht es um die Frage nach den tatsächlichen Chancen des demokratischen Systems in der herrschenden Machtordnung. Die Stärke einer sozialen Kraft hat aber auch eine normative Seite: Welche normative Kraft können Kapitalismus und Demokratie entfalten? Wie legitimieren sie die herrschende Machtordnung – oder deren Veränderung? Zum faktischen Kräfteverhältnis tritt ein normatives hinzu: Welches Konzept kann Menschen mehr zum Handeln bewegen? So betrachtet, geht es um die Durchsetzungskraft einer normativen Gesellschaftsordnung. Welchen Sinn verleihen die Ideen von Kapitalismus und Demokratie unserem Leben? In welchem Verhältnis stehen individueller Nutzen und Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft? Verstehen wir uns Menschen primär als Interessenträger oder als Rechtsträger? Erst wenn wir diese Fragen beurteilt haben, können wir ermessen, welche Chancen das Projekt hat, den Kapitalismus demokratisch zu verfassen.

Faktisch dominiert das Kapital die demokratischen Prozesse. So ist die Finanzmarktkrise über die Staatsschuldenkrise zur Demokratiekrise geworden. Die Regierungen sehen sich gezwungen, die Forderungen der Banken und Ratingagenturen auf Kosten der Steuerzahler zu erfüllen. Sie übergehen dabei die demokratischen Rechte betroffener Staaten, wie die Europapolitik gegenüber Griechenland exemplarisch gezeigt hat. Aber auch in der Schweiz, in der die demokratischen Rechte formal meist gewahrt werden, setzen sich die Interessen des Kapitals im demokratischen Prozess durch. So wird etwa eine Steuergerechtigkeitsinitiative, welche dem Steuerwettbewerb unter den Kantonen eine Grenze setzen will und an sich im Interesse von 97% der Bevölkerung läge, in der Volksabstimmung abgelehnt, weil potente Wirtschaftsträger mit Exit aus der Schweiz drohen. Die Macht der Arbeitgeber und die von ihnen geschürte Angst der Arbeitnehmer vor Arbeitslosigkeit oder Einkommensverlust bringt die Mehrheit der Stimmenden immer wieder dazu, gegen ihre eigenen Interessen und gegen die Gerechtigkeit zu stimmen. Fragen wir nach faktischen Machtverhältnissen, vermögen wir kaum Chancen der Demokratie zu erkennen. In rein systemischer Betrachtung dominiert der Kapitalismus die Demokratie.

Die Wertfrage

Auf der normativen Ebene stellen sich aber andere Fragen. Die erste ist jene nach dem Sinn und Wert dieser faktischen Ordnung. Welches Ideal, welcher Wert macht mehr Sinn: Das Prinzip des Kapitalismus oder jenes der Demokratie? Oder, zugespitzt gefragt: Gibt es einen motivierenden Sinn unseres Handelns ausserhalb der Nutzenmaximierung, die hinter dem Kapitalismus steht? In unserer Wohlstandsgesellschaft sind unsere materiellen Interessen zur verinnerlichten Werthaltung geworden, nach der wir auch die demokratischen Entscheide treffen. Die gängige Moral ist einseitig nutzenorientiert. Nicht dass der Kapitalismus keine eigene Ethik aufzuweisen hätte. Sogar unsere politische Verfassung bringt diese zum Ausdruck. Hinter der Wirtschaftsfreiheit steht eine Erfolgsethik, nach welcher jeder im Wettbewerb mit den andern nach Massgabe seiner Leistung Reichtum erwerben soll. Hinter der Eigentumsgarantie steht eine Habenorientierung, eine Ethik des Besitzens, nach welcher jedem eine Verfügungsmacht über jene Objekte zustehen soll, die er verdientermassen erworben hat. Erfolg und Besitz sind die höchsten Güter dieser Werthaltung. Erfolgsethik und Besitzstreben sind stark verinnerlichte ethische Orientierungen in unserer vom Nützlichkeitsdenken geprägten Lebensform. Wir wollen, dass es uns möglichst gut geht. Darunter verstehen wir primär unser körperliches und materielles Glück. Diesem Ziel soll auch die Demokratie dienen. Diese aber verfolgt noch ganz andere Ziele. Sie vertritt eine Ethik der Solidarität unter den „Eidgenossen“. Sie strebt nach der Autonomie des Individuums im Verbund mit seiner Gemeinschaft. Sie stellt dem kurzfristigen Lustprinzip des Einzelnen die Nachhaltigkeit einer Gesellschaftsordnung entgegen, an der alle gleichberechtigt teilnehmen.

Damit wird der Konflikt zwischen Kapitalismus und Demokratie zu einem Bewusstseinsproblem. Wie positionieren wir uns normativ im Konflikt zwischen Solidarität und Wettbewerb, zwischen Gemeinschaft und Individuum, zwischen Nachhaltigkeit und momentanem Glück? Diese Wertfrage muss in einer liberalen Gesellschaft offen bleiben. Es steht niemandem zu, das eine oder das andere Bewusstsein für falsch zu erklären. Das wäre eine Anmassung. Gestritten werden darf nur über die Argumente für oder gegen Entscheidungen, die sich auf die eine oder die andere Werthaltung stützen. Auch der Kapitalismus (als normative Position) ist somit darauf angewiesen, dass die Demokratie dafür sorgt, dass die Wertfrage unentschieden bleibt und immer wieder neu gestellt werden kann. Demokratie ist die öffentliche Institution, in deren Rahmen wir die Regeln unseres Zusammenlebens – einschliesslich der Wirtschaftsform – nach den liberalen Massstäben von Freiheit, Gleichheit und Solidarität bestimmen. Der Kapitalismus (als System) ist bloss eine mögliche Antwort auf die demokratisch zu entscheidende Frage nach der Wirtschaftsform. Er ist damit ein Ergebnis der Demokratie. Die Frage nach Sinn und Wert des Kapitalismus ist demokratisch zu entscheiden. In der Sinnfrage hat die Demokratie normativen Vorrang.

Die Gerechtigkeitsfrage

Die zweite Frage auf der normativen Ebene ist jene nach der Gerechtigkeit: Sie beschlägt die Ebene der Wirkung beider Konzepte auf die Rechte der Menschen. Welches Ordnungsprinzip entspricht eher dem Gebot der Gerechtigkeit: das Prinzip des Kapitalismus oder jenes der Demokratie? Das ist durchaus keine rhetorische Frage. Die Marktgerechtigkeit, auf welcher der Kapitalismus beruht, will, dass jedes Gut – und damit auch jede Leistung – zur höchstmöglichen Verwertung gelangt. Gerecht ist eine Ordnung dann, wenn sie die Gleichheit der Leistungsbewertung sicherstellt. Gleichheit bedeutet ja nicht nur, dass Gleiches gleich behandelt werde, sondern auch, dass Ungleiches nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt werde. Soweit Wertfragen mit dem Massstab des Geldes beurteilt werden können, ist es daher durchaus gerecht, die Gleichheit des Frankens zum Standard zu machen und daran die Ungleichheit der Menschen zu bewerten. Die Freiheit zur Befriedigung der eigenen Bedürfnisse aus dem Ergebnis der eigenen Leistung führt dann unweigerlich zur Ungleichheit unter den Menschen. Freiheit wird so zur Grundlage einer differenzierten Gleichheit. Dieser Differenzierung will allerdings das Prinzip der Demokratie eine Grenze setzen. Es setzt mit dem Rechtsstaat die Würde und Gleichheit aller Menschen zum Massstab aller Bewertung. Die Demokratie soll eine Gesellschaft schaffen, in welcher die Würde aller geachtet und geschützt wird. Für sie ist Freiheit nur dann wertvoll, wenn sie für alle gleich gilt. Gleichheit ist hier die Grundlage der Freiheit und nicht umgekehrt. Ihre Ethik ist jene der Gerechtigkeit. Sie will Freiheit nur in Verbindung mit Gleichheit und Solidarität. Die rechtsstaatliche Demokratie sieht im Menschen nicht nur den Interessenträger, den der Kapitalismus meint, sondern den Rechtsträger. Demokratie bedeutet das Recht auf Anerkennung aller auf gleicher Augenhöhe als Mitmensch und Bürger. Sie schafft eine Ordnungspolitik, welche aller Interessenpolitik vorgeordnet ist. Erst im Rahmen dieser Ordnungspolitik stellt sich die Frage nach einer allenfalls kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Damit hat die Demokratie auch in Bezug auf die Gerechtigkeitsfrage Vorrang.

Das Legitimationsdefizit des Kapitalismus

Im Ergebnis leidet die faktische Dominanz des Kapitalismus über die Demokratie (je als Systeme) unter einem Legitimationsdefizit im ethischen Sinne: Sie nimmt für sich eine Wertentscheidung in Anspruch, die ihr nicht zusteht, und sie legitimiert sich über eine Gerechtigkeitsvorstellung, die nicht generalisierbar ist. Der Kapitalismus (sowohl als Prinzip wie als System) ist daher darauf angewiesen, dass seine Werte durch die Demokratie anerkannt werden – und muss bereit sein, seine Wertentscheidung dem demokratischen Legitimationsprozess auszusetzen. Damit muss er seine Interessen der demokratischen Rechtsordnung einordnen, d.h. seine Ethik der individuellen Interessenverfolgung einer politischen Ethik unterordnen. Auf der Ebene der Institutionenethik muss somit die Idee des Kapitalismus der Idee der Demokratie den Vorrang lassen.

Dieser normative Vorrang der Demokratie ist nun aber nicht nur ein Sollen. Er bestimmt die Teilnehmerperspektive auf das Machtverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus und hat damit Teil an der Gestaltung ihres Verhältnisses. Die ethische Rechtfertigung der Demokratie fördert die faktische Akzeptanz ihres Vorrangs. In einer offenen Gesellschaft der Freiheit – auf welche zumindest der westliche Typ von Marktwirtschaft auf Dauer angewiesen ist – wird der Rechtfertigungsdruck, der auf einer herrschenden Machtordnung lastet, zum faktischen Zwang zur Reform. Hier zeigt sich – neben der oft zitierten normativen Kraft des Faktischen – auch eine faktische Kraft des Normativen. Der Kapitalismus als System kann nur fortbestehen, wenn er sich demokratisch verfassen lässt.

Dazu aber muss sich auch die Demokratie selbst reformieren. Soll sie die Wirtschaftsordnung legitimieren, muss sie als Lebensform in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft verstanden werden. Sie muss die Form darstellen, in der Fragen nach Sinn, Wert und Gerechtigkeit in allen Bereichen des öffentlichen Zusammenlebens der Menschen gestaltet werden können. Demokratie reicht dann über die herkömmliche Staatsform hinaus. Sie ist die Lebensform einer kollektiven Verantwortung für unser vernünftiges Zusammenleben in Freiheit. Das demokratische Prinzip muss sich in deliberativen Strukturen und Prozessen sowie in Partizipationsrechten aller Betroffenen niederschlagen, und zwar in allen Institutionen der Gesellschaft und der Wirtschaft.

Vom Konzept zur Reform

Soweit zum konzeptionellen Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus – sowohl in ihren Gehalten als Prinzipien wie als Systeme. Die hier versuchte konzeptionelle Verknüpfung der normativen und faktischen Dimensionen ruft nun nach Entscheidungen, welche durch das geschilderte Verhältnis gefordert sind. Das Bewusstmachen der Spannung von Ideal und Realität muss in handlungsorientierende Anleitung ausmünden: Was verändert sich durch die geforderte Demokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft? Da Demokratie als Prozess zu verstehen ist, muss ihr Ergebnis offen bleiben. Die normative Argumentation soll aber eine Richtung angeben, in welcher der Prozess sich entfalten kann. Möglich sind beispielsweise Denkanstösse wie die folgenden:

In der Gesellschaft könnte sich das Demokratieprinzip dadurch auswirken, dass sich die vorhandenen Elemente einer Bürger-Gesellschaft verstärken. Diese beschränkt sich heute auf Vereine, Genossenschaften und politische Bewegungen. Die bürgerschaftliche Idee der Mitbestimmung aller Betroffenen lässt sich darüber hinaus aber auch in den staatlich geformten Institutionen der Gesellschaft verwirklichen, so etwa als Schuldemokratie in Klassen und Schulhäusern, als Mitbestimmung der Patientinnen und Patienten im Gesundheitswesen oder als Mitbestimmung der Versicherten in den Sozialversicherungen.

In der Wirtschaft muss das Kapital nicht weiterhin den alles beherrschenden Produktionsfaktor darstellen. Um dies zu gewährleisten, liessen sich insbesondere drei zentrale normative Prinzipien des heutigen Kapitalismus demokratisch reformieren: Die Wirtschaftsfreiheit, das Eigentum und die Finanzmarktordnung.

Zum einen könnte die Wirtschaftsfreiheit vom rein individuellen Grundrecht zu einer demokratischen Freiheit erweitert werden. Sie würde damit zum Partizipationsrecht aller Teilnehmenden am Prozess des Wirtschaftens. Neben den Aktionären wären auch Arbeitnehmer, Lieferanten, Kunden und Nonprofit-Organisationen zur Teilnahme am Prozess der Unternehmung berechtigt. Darüber hinausliesse sich die Bedeutung der Aktiengesellschaft mindern und jene der Genossenschaft und der Stiftung stärken, damit das Wirtschaften stärker an den Rechten der beteiligten Menschen und an Zielen des Gemeinwohls ausgerichtet würde als am finanziellen Gewinn (Einen Denkanstoss in dieser Richtung liefert die „Gemeinwohlökonomie“ von Christian Felber. Wien, 2. Aufl. 2012).

Sodann liesse sich die Eigentumsgarantie als Persönlichkeitsrecht natürlicher Personen gestalten. Eigentum hätte nur noch den Sinn, dem Einzelnen die Existenz zu sichern. Darüber hinaus akkumuliertes Vermögen hingegen wäre in seiner Wirkung gegenüber Mitmensch und Umwelt zu verantworten. Die Rechte an grösseren Vermögen wären durch die demokratische Gesetzgebung zu bestimmen (Vgl. dazu „Eigentum ist kostbar, denn es macht frei!“, Artikel von kontrapunkt vom 10. Juli 2011 von Gret Haller, Philippe Mastronardi, Peter Ulrich und Daniel Wiener, sowie „Freiheit, Gleichheit und Eigentum“, Artikel von kontrapunkt vom 11. September 2013 von Gret Haller auf dieser Webseite).

Schliesslich liesse sich der Finanzmarkt als Infrastruktur der Realwirtschaft in deren Dienst stellen. Die Finanzintermediäre hätten einen demokratisch legitimierten Service Public zu gewährleisten. Die Versorgung der Wirtschaft mit Geld und Kredit wäre ein öffentlicher Dienst, der unter staatlicher Steuerung vom Bankensektor zu erfüllen wäre (Vgl. dazu „Das Geld regiert die Welt – oder es dient ihr.“  Artikel von kontrapunkt vom 24. Oktober 2011 von Philippe Mastronardi und Peter Ulrich auf dieser Webseite).

Solche und weitere denkbare Reformen schaffen ein neues Verhältnis von Demokratie und Kapitalismus. Weil der Kapitalismus als System die Legitimation durch die Demokratie als Prinzip braucht, muss er sie in seinem Wirkungsbereich zulassen. Anderseits muss die Demokratie, um ausserhalb der Politik wirken zu können, neue Formen finden, welche den Institutionen der Gesellschaft und der Wirtschaft angepasst sind. Die Verfassung des Kapitalismus ist kein neuer Zustand, sondern ein nie abschliessbarer demokratischer Prozess.

 

24. Juli 2014

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Gabriella Bardin Arigoni, Politologin, Universität der italienischen Schweiz; Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Michael Graff, Volkswirtschafter, ETH Zürich; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Bern; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. em. Dr. Dr. h.c. Beat Sitter-Liver, Philisophischer Ethiker, Universität Freiburg (Schweiz); Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.

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