Alte Politik für neue Lebensläufe? Anregungen für ein Umdenken
Autorin/Autor: René Levy
Von Kontrapunkt* vom 18. Dezember 2007
Politik gründet auf Annahmen über die Lebensverhältnisse der Menschen. Wenn ihnen in kritischen Situationen sinnvoll geholfen werden soll, muss man wissen, wo Massnahmen anzusetzen haben und wie sie beschaffen sein müssen, damit sie konstruktiv wirken.
Die grossen Institutionen der heutigen Schweiz (Schule, Politik, Rechtssystem, Sozialwerke, Armee) stammen in ihren Grundzügen aus dem späten 19. und dem frühen 20. Jahrhundert. Seither haben sich die Lebensumstände in unserem Land in vieler Hinsicht und beschleunigt verändert, ohne dass der institutionelle Rahmen systematisch angepasst wurde. Führen wir uns einige dieser Veränderungen vor Augen.
- Fast alle Menschen werden heute alt bis sehr alt; die Lebensläufe heutiger Menschen dauern wesentlich länger als vor fünfzig oder hundert Jahren.
- Folgenreiche biographische Übergänge sind problembeladener und weniger planbar geworden als vor einigen Jahrzehnten, besonders der Eintritt ins Berufsleben und der freiwillige oder unfreiwillige Austritt daraus.
- Kaum weniger Menschen bilden Paare und Familien als früher, aber die Partnerschaft ist nicht mehr unverrückbares Schicksal, sie ist eine Beziehung geworden, die man an persönlichen Ansprüchen misst; mehr Paare lösen sich deshalb auf, mehr Paare setzen sich aber auch neu zusammen.
- Erwerbstätigkeit von Frauen ist zur sozialen Selbstverständlichkeit geworden; dennoch gilt sie nicht in jeder Situation als gleich legitim und gleich zu behandeln wie jene der Männer (Löhne, Weiterbildungs- und Aufstiegsperspektiven usw.).
- Familien- und Berufsleben schliessen sich deshalb nicht weniger, sondern mehr als früher tendenziell aus. Das zwingt Frauen, kaum aber Männer, oft zu einem Entscheid für das eine und gegen das andere. Unter dem Druck dieser Umstände – nicht so sehr aufgrund veränderter Wertvorstellungen – bilden sich dauerhafte Paare später im Leben, werden Kinder später und weniger zahlreich geboren, bleiben Berufskarrieren weitgehend männlich.
- Biographische Verläufe haben sich diversifiziert, die feste Ablaufordnung einer kleinen Zahl aufeinander folgender Phasen ist weniger zwingend geworden, es gibt vermehrt « backloops » (z.B. Rückkehr Erwachsener in eine Ausbildungsphase, Wiederverheiratung und erneute Elternschaft), ausserhalb der sozialen Normen liegende Phasen oder Verläufe werden zahlreicher (etwa chronische berufliche Prekarität, allein erziehende Eltern, vor allem Mütter, oder, ein in der Schweiz noch seltenes Beispiel: Mutterschaft von Adoleszenten).
Verglichen mit dieser vielfältiger werdenen sozialen Realität basieren die Grundannahmen vieler institutioneller Regelungen nach wie vor auf einem einzigen Standardmodell : Lebensphasen wie Ausbildung, Berufstätigkeit, Pension folgen aufeinander und sind klar voneinander getrennt; Menschen, besonders Kinder leben in Familien, in denen eine erwachsene Person permanent für Familienbelange verfügbar ist und demzufolge nicht voll (oder gar nicht) berufstätig sein kann, wobei die Familie trotzdem über genügend Kaufkraft verfügt, um sich in der Marktwirtschaft zumindest über Wasser zu halten ; Berufstätigkeit von Unselbständigen findet in einem Normalarbeitsverhältnis statt, d.h. vollzeitig, mit fixem Stundenplan und unbefristet. Menschen, die aus gewählten oder zugestossenen Gründen ausserhalb dieses Grundmodells leben – konsequent gemeinsam erziehende Eltern mit zwei halben Stellen, allein erziehende Mütter, wenig bemittelte Erwachsene, die ein Studium absolvieren wollen, Menschen mit nicht marktgängigen Qualifikationen usw. – werden insofern « bestraft », als sie es wesentlich schwerer haben, sich am normalen Funktionieren der gesellschaftlichen Institutionen zu beteiligen (Beispiel : Einkäufe für eine allein erziehende, voll berufstätige Mutter) und oft eigentlichen Zerreissproben ausgesetzt sind. Die zusätzlichen Probleme, mit denen sie kämpfen müssen, rühren daher, dass ihre Situation nicht den Normalitätsbildern entspricht, die die Institutionen, welche unseren Alltag strukturieren, durch ihr gängiges Funktionieren voraussetzen.
Institutionelle Normalitätsannahmen und gelebter gesellschaftlicher Alltag klaffen also oft weit auseinander. Will man diese Diagnose ernst nehmen, so braucht man eine umfassende Sicht des Alltagslebens, die nicht statisch ist, sondern die Diversität menschlicher Lebensläufe und -situationen in Rechnung stellt. Erwachsene Menschen nehmen in jedem Lebensabschnitt an einer Vielzahl von Tätigkeitsfeldern teil, die einander beeinflussen. Viele Probleme entstehen nicht innerhalb einzelner dieser Bereiche, sondern an den Schnittstellen zwischen ihnen, und können deshalb nur durch „intersektorielle“ Zugänge angemessen behandelt werden.
In dieser Perspektive drängen sich vielerlei Änderungen auf, die durch vier willkürlich herausgegriffene Beispiele illustriert seien.
Erstes Beispiel: Wenn Erwerbsunterbrechungen aus verschiedenen Gründen häufiger werden (Elternpflichten, Stellenverlust, Rückkehr zur Ausbildung), darf die Anrechnung der gearbeiteten Zeit die „Unterbrecher“ nicht länger durch Rentenreduktionen (AHV, Pensionskassen) bestrafen – es muss möglich sein, den Normalanspruch über eine längere Lebenszeitspanne zu erwerben.
Zweites Beispiel: Wenn die Geburtenzahl u. a. aufgrund der institutionell bedingten Unvereinbarkeit von Erwerbs- und Familienengagement sinkt (die schweizerische Geburtenziffer liegt im europäischen Vergleich besonders tief), muss – neben einer Reihe anderer institutioneller Änderungen (Ganztageskrippen, -kindergärten und –schulen, flexiblere Öffnungszeiten von Geschäften, Ämtern und öffentlichen Diensten) – das Profil der Teilzeitarbeit (Arbeits- und Sozialrecht, Aufstiegs- und Umschulungsmöglichkeiten) so verändert werden, dass sie für Männer und Frauen gleichermassen attraktiv wird.
Drittes Beispiel: Wenn aufgrund der generalisierten Langlebigkeit die Grosszahl der Begünstigten bereits aus der Erwerbsphase austritt, wenn es zum Erben kommt, entfällt der Existenzaufbau als sozial akzteptable Begründung der steuerlichen Entlastung von Erbschaften. Steuererleichterungen beim Erben dienen dann nur noch der ungehinderten Reichtumsakkumulation im Generationenwechsel.
Viertes Beispiel: Wenn durch die Neuzusammensetzung von Familien komplexe Verwandtschaftsverhältnisse entstehen, müssen Anrechts- bzw. Anspruchsregelungen so angepasst werden, dass rechtliche Situationen möglich werden, die den sozialen Beziehungen unter den Beteiligten angemessen sind.
Eine realistische Politik, die brauchbare Resultate erzielen will, muss im skizzierten Sinn lebenslauforientiert begründet werden. Dies heisst nicht generelle Flexibilisierung, auch nicht einfach „Flexicurity“. Denn ein beträchtlicher Teil der neuen Flexibilität resultiert nicht aus veränderten Wünschen der Bevölkerung, sondern aus veränderten Funktionsbedingungen in der Arbeitswelt, die Unsicherheit und Stress erhöhen. Das vorhandene Wissen in Wissenschaft und Praxis über die vielfältigen Problemsituationen muss systematisch daraufhin befragt werden, wie unnötige Zwänge durch institutionelle Rythmen und Regeln vermindert werden können, ohne dadurch das Netz der sozialen Sicherheit weiter zu schwächen.
* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: kontrapunkt, der zurzeit 22-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Prof. Dr. Gabrielle Antille Gaillard, Ökonomin, Universität Genf; Prof. Beat Bürgenmeier, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.Kontakt: kontrapunkt-Geschäftsstelle, c/o ecos, 4051 Basel, Daniel Wiener, Tel. 061 205 10 10; www.rat-kontrapunkt.ch