Nicht EU-Beitritt, aber EU-Beitrittsverhandlungen jetzt!

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Von Kontrapunkt* vom 12. März 2014

Nach dem Ja zur Einwanderungsinitiative ist unser Verhältnis zur EU unübersichtlicher den je. In diesen Wirren wurde ein Ausweg, der sich anbietet, bisher noch kaum diskutiert: Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der EU. Dieser Schritt ist nicht mit einem Beitritt zu verwechseln. Solche Verhandlungen würden vielmehr einer umfassenden Klärung unseres nachbarschaftlichen Verhältnisses dienen. Nach fünf bis zehn Jahren könnte das Volk anhand konkreter Vorschläge entscheiden, ob es diesen Weg gehen will. Schlagartig ändern würde sich die Haltung der EU zum Bilateralismus mit der Schweiz. Vor dem Hintergrund der Beitrittsverhandlungen liessen sich wichtige Dossiers deblockieren.

Vor der Abstimmung über die Einwanderungsinitiative wollte Bundesrat Didier Burkhalter den Weg für „weitere 20 Jahre bilaterale Verträge“ ebnen. In seinen Augen übernahm er damit eine doppelte politische Führungsrolle. Er beabsichtigte erstens, eine Blockade der Beziehungen mit der EU zu verhindern, die schon vor dem 9. Februar 2014 drohte. Mit dem Versprechen, sich auf den bilateralen Weg zu konzentrieren, wollte Burkhalter zweitens den Fehler vermeiden, den der Bundesrat in seinen Augen 1992 beging. Damals deponierte die Landesregierung, kurz vor der Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), ein Beitrittsgesuch bei der EU. Manche Beobachter sehen in diesem Beitrittsgesuch rückblickend den ausschlaggebenden Fehltritt, der die Stimmung gegen den EWR kippte.

Doch alle Vorsicht nützte diesmal nichts. Das Volk sagte trotzdem knapp Ja zur Kontingentierung der Einwanderung. Wie sich heute zeigt, verabschiedete sich unser Land damit auch von mancher Errungenschaft, die es der Zusammenarbeit mit der EU verdankt. Der Schock sitzt bei manchen tief, und der Bundesrat sucht nach Wegen, zu retten, was zu retten ist. Dabei übersieht er möglicherweise, dass eine grundsätzliche Neuorientierung unserer EU-Politik sowohl kurz- als auch mittelfristig produktiver sein könnte.

Neben dem kurzfristigen Ziel, den bilateralen Scherbenhaufen notdürftig zu kitten, wäre jetzt wohl der richtige Moment, um mit der EU Verhandlungen über einen Beitritt der Schweiz aufzunehmen. Vielleicht sind wir sogar im Begriff, eine historische Gelegenheit zu verpassen, wenn wir diesen Schritt nicht tun. Für lange Zeit wird es nicht mehr so einfach sein, gute Bedingungen für einen Schweizer Beitritt auszuhandeln. Denn die EU befindet sich in einer der tiefsten wirtschaftlichen und politischen Krisen ihrer Geschichte, während es der Schweiz gut geht. In Verhandlungssprache ausgedrückt: Wenn ich selbst stark und die Gegenseite geschwächt ist, habe ich die besten Karten und die überzeugendsten Argumente. Somit kann ich das günstigste Ergebnis erwarten.

Es ist nicht leicht, Schweizer Interessen gegenüber der EU zu vertreten. Denn die Union schwankt angesichts des Phänomens Eidgenossenschaft zwischen Bewunderung und Nichtbeachtung. Beide Haltungen werden unserem Land nicht gerecht. In Europa herrscht die Vermutung vor, dass die Schweiz von bilateralen Abkommen in erster Linie profitieren, aber nicht mit bezahlen will. Bern überweist aber bereits heute Mittel in ähnlicher Grössenordnung nach Brüssel wie das EU-Mitglied Österreich. Dies um die Schweizer Verpflichtungen aus den bilateralen Verträgen zu erfüllen.

Von den einbezahlten Milliarden fliesst allerdings ein Teil zurück, zum Beispiel in Form von Subventionen, unter anderem an die Europäischen Niederlassungen von Ems Chemie und Nestlé oder für Kultur und Forschung in der Schweiz. Ein Ausbau der bilateralen Abkommen würde diese Geldströme weiter anschwellen lassen. Der politische Ertrag verharrte jedoch nahe Null, da wir weiterhin auf Mitsprache in Europa verzichten müssten.

In dieser Ausgangslage das Beitrittsgesuch der Schweiz neu zu beleben, käme im Fussball einem überraschenden Gegenstoss gleich: Den Verhandlungspartner zu überraschen ist eine Taktik, mit der die Eidgenossenschaft letztmals im Westfälischen Frieden punktete. 1648 rang sie einem zerstrittenen Europa die Loslösung der nachmaligen Schweiz vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ab. Aus heutiger Sicht war das der Austritt aus der EU, wie sie damals bestand. Mit Johann Rudolf Wettstein war es ein Basler, der diesen Erfolg frech initiierte und massgebend durchzog. Und er schaffte es gar, dass die Grossmächte ihr epochales Zugeständnis als eigenen Erfolg verbuchten. Nicht umsonst hat Wettsteins Vaterstadt ein Quartier und eine Rheinbrücke nach dem erfolgreichen Ahnen benannt.

Europa ist heute, trotz Absenz von Kriegen, ähnlich mit sich selbst beschäftigt wie damals. Weder sind sich die Staaten über die Zukunft des Euro einig noch über die Strategie, die aus der Schuldenfalle im Süden herausführt. Es herrscht ein allgemeines Malaise. Ungefragt bekommen Schweizer Reisende im Ausland Komplimente dafür, dass wir nicht Teil dieses Trauerspiels sind.

Doch machen wir uns nichts vor. Europa wird sich wieder aufrappeln. Und dann steht die Schweiz wie zuvor als isolierter Sonderling da, der sich in der Krisenzeit unsolidarisch mokiert hat über die Nachbarn in Not.

Wir sind es unserer Jugend schuldig, diese Zukunft zu antizipieren und heute zu handeln. Bevor sich die Erfahrung mit dem Bankgeheimnis wiederholt. Dieses „unverhandelbare“ Credo unseres Finanzplatzes sahen wir implodieren wie eine Seifenblase. Was anfangs dieses Jahrhunderts noch glitzerte und glänzte, ja, als Basis unseres Wohlstands verehrt und vergöttert wurde, ist heute nur noch Schall und Rauch. Und was bekommen wir für den Verzicht auf ein angeblich identitätsstiftendes Merkmal der Schweiz? Am Ende gar nichts. Mit hängenden Köpfen stehen die ehemaligen Verteidiger des Steuerhinterziehungsgeheimnisses im Regen. Was noch vor Kurzem als tolles Pfand erschien, nimmt heute kein Brockenhaus mehr an. Eine Institution mit vermeintlich hohem Wert ist zur Hypothek geworden. Die Kapitulation erfolgt bedingungslos.

Mit der EU könnte es uns ähnlich ergehen. Diese ist froh, ihre Krise auszusitzen, indem sie uns auf dem bilateralen Karussell eine weitere Runde drehen lässt oder – nach der einseitigen Aufhebung der Personenfreizügigkeit – sogar die bilateralen Verträge in Frage stellt. Brüssels ursprünglicher Ansatz, die Schweiz zu einem Rahmenabkommen und damit zu mehr Verbindlichkeit zu drängen, scheiterte an Europas momentaner Schwäche.

Dass sich das Blatt aber rasch wenden kann, hat die Leiterin des Staatssekretaritas für Wirtschaft, Marie-Gabrielle Ineichen-Fleisch schon vor der Abstimmung vom 9. Februar erkannt. Von der Handelszeitung befragt, ob sich die Schweiz „einen Stillstand im bilateralen Weg leisten“ könne, antwortete sie: „Im Moment ja. Langfristig besteht die Gefahr, dass wir irgendwann nicht mehr Teil des EU-Binnenmarktes sein werden. Das geschieht dann, wenn wir unsere Gesetze nicht mehr an die EU-Gesetzgebung anpassen können. Das würden unsere Unternehmen schmerzhaft zu spüren bekommen.“

Sollten wir, in zehn oder zwanzig Jahren, aus wirtschaftlichen Gründen gezwungen sein, einen Beitritt nach Vorstellungen der EU zu akzeptieren, müssten wir wohl zentrale Elemente des Föderalismus, der direkten Demokratie, der Fiskalpolitik oder gar die Währungsautonomie über Bord werfen. Sofortige Beitrittsverhandlungen könnten wir hingegen unter Wahrung unserer unantastbaren Werte in Angriff nehmen.

Die zentrale Frage ist jedoch: Welches sind unsere unantastbaren Werte? Durch die Fokussierung auf den bilateralen Weg ist diese Debatte schon vor dem 9. Februar völlig eingeschlafen. Es gab keine politische Diskussion darüber, welche Grundsätze und Institutionen für die Schweiz bei einem Beitritt „nicht verhandelbar“ wären. Es existierten zwar Vermutungen dazu in einzelnen Köpfen. Aber es fehlte ein Prozess, der den Konsens herbeiführen könnte, welche Errungenschaften wir keinesfalls preisgeben wollen.

Genau diese Diskussion könnte jetzt – nachdem das Ja zur Einwanderungsinitiative auch den bilateralen Weg in Frage stellt – wieder belebt werden durch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Hier sollte Bundesrat Didier Burkhalter die Führung übernehmen, und zwar parallel zum Scherbenkitten nach dem 9. Februar und zu seinem bilateralen Projekt, dem übrigens ein böses Ende in der Schlussabstimmung des Volkes drohen könnte. Denn auf alternativlose Sackgassen-Politik reagieren die Schweizerinnen und Schweizer allergisch. Zu Recht. Dasselbe gilt für die EU: Die einseitige Fixierung der Schweiz auf Bilateralismus weckt Misstrauen, während Bilateralismus vor dem Hintergrund laufender Beitrittsverhandlungen als Übungsfeld zukünftiger, engerer Kooperation positiv bewertet würde. Der EU würde es leichter fallen, im einen oder anderen Dossier nachzugeben und sogar neue Abkommen zu schliessen, zum Beispiel über den Strommarkt.

Ein EU-Beitritt ist jedoch nicht einfach ein Geschäft. Es geht darum, mit den anderen Ländern auf dem Kontinent das gemeinsame Haus zu gestalten und zu beleben, ähnlich wie die alten Eidgenossen, als die Stände erkannten, dass ihre Stärke in der gemeinsamen Vielfalt liegt. Der Integrationsprozess der Schweiz dauerte Generationen, Krisen, Kriege und Schmerzen inklusive. Europa ist heute in etwa dort, wo die Schweiz im 18. Jahrhundert stand: Also kein Bundesstaat, sondern ein Staatenbund.

Bis zum Bundesstaat Europa kann es noch länger dauern, und ob er je kommen wird, ist offen. So wie etwa die Kantone Bern und St. Gallen oder Appenzell und Genf auch heute noch, im Bundesstaat Schweiz, unterschiedliche Dialekte, ja, Sprachen und politische Kulturen pflegen, wird unser Land, wenn es richtig verhandelt, innerhalb von Europa über Jahrhunderte seine Eigenheiten und seine Identität bewahren können.

Jetzt ist der Moment, um die besten Bedingungen auszuloten, die uns Europa für lange Zeit anzubieten hätte. Sollten wir am Ende der fünf- bis zehnjährigen Verhandlungen den Eindruck gewinnen, der Zeitpunkt sei nicht reif oder das Ergebnis ungenügend, können wir immer noch Nein sagen.

12. März 2014

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Prof. em. Dr. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Michael Graff, Volkswirtschafter, ETH Zürich; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Bern; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Liliana Winkelmann, M.A., MAS MDI - Managing Diversity, Zürich.

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