Wissenschaftsresultate für die Praxis – auch eine Holschuld

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Von Kontrapunkt* vom 18. Dezember 2014

Die Schweizer Medien und andere Kommunikationsgemeinschaften sind sich sehr weitgehend einig darüber, dass die Wissenschaft der Gesellschaft Rechenschaft schuldet und dass umgekehrt die Gesellschaft die Resultate der Wissenschaft braucht. Die praktische Umsetzung dieser an sich durchaus richtigen Vision wird nach ebenso weit gehendem Konsens darin gesehen, dass die Wissenschaft mehr und besser kommunizieren muss. Eines der jüngsten Beispiele dafür ist der Beitrag «Wissenschaft vermitteln» von Zeltener & Burkard (NZZ vom 25.11.2014), die für eine Verbesserung und Professionalisierung der Wissenschaftskommunikation plädieren und einen grossen «edarf an gesellschaftlicher Orientierung über die Wissenschaft und ihre Folgen» orten.

Wenn das so einfach gehen könnte, müsste etwa angesichts der beträchtlichen und durchaus professionellen Umsetzungsanstrengungen des Nationalfonds die Schweiz eine der bestinformierten Gesellschaften der Welt sein und ihre Politik auf einem mit wissenschaftlichen Resultaten gesättigten Boden geführt werden. Die praktische Erfahrung zeigt jedoch zum ersten, dass je nach Fachrichtung der Weg zur Praxis völlig anders aussieht, namentlich anders geartete Ansprechpartner ins Spiel kommen, was auch andere Ansprachestrategien nötig macht. Sie zeigt zum zweiten, dass nicht jedes Praxisfeld und seine verantwortlichen Akteure begierig darauf sind, wissenschaftlich aufgeklärt zu werden.

Wenn es beispielsweise um sozialwissenschaftliche Resultate geht, sind naturgemäss oft PolitikerInnen die angemessenen Ansprechpartner. Dort verfängt sich die Kommunikation allerdings häufig in ideologischen Fallstricken, die sich als Widerstand gegen die wissenschaftliche Begründung der eigenen Meinung auswirken.

Davon sind vielfältige Formen zu beobachten. Eine solche Form ist beispielsweise, dass umstandslos die Seriosität und Verlässlichkeit von Befragungsresultaten in Frage gestellt wird, wenn sie Vorstellungen oder Zielen widersprechen, an denen man stark engagiert ist. Eine andere ist, dass man Gegenstudien ins Feld führt oder verlangt. Eine dritte ist, dass man Sozialwissenschaften grundsätzlich als nicht wirklich wissenschaftlich und glaubwürdig hinstellt. Eine vierte Variante ist, dass man aus diesen Wissenschaften stammende Erkenntnisse gar nicht beizieht. Im schlimmsten Fall werden wissenschaftliche Ergebnisse schlichtweg als ideologische Elaborate verunglimpft.

Nur eine konkrete Illustration sei dazu angeführt. Zu den 21 Studien des Nationalen Forschungsprogramms 60 über Gleichstellungspolitik in der Schweiz (2010-2014) gehörte eine Untersuchung über evidenzbasierte Politik mit Folgen für die Gleichstellung der Geschlechter (für die Legislaturperiode 2008-2011 in allen Kantonen). Drei wichtige Ergebnisse können folgendermassen zusammengefasst werden :

a) Rund die Hälfte der für die Gesetzgebungsprozesse im Bereich der Steurer- und Sozialtransferpolitik zuständigen Sachbearbeitenden in den kantonalen Verwaltungen gibt  an, über relevante gleichstellungsbezogene Studien informiert zu sein. In sehr wenigen Fällen wurden diese Evidenzen jedoch argumentativ in den Botschaften zu den Gesetzen verwendet.

b) Nur in acht der 60 untersuchten Gesetzgebungsprozesse wurden gleichstellungssensitive Informationen seitens der kantonalen Gleichstellungsfachpersonen explizit diskutiert.

c) Bürgerliche Departementsvorsteher greifen bei den untersuchten Gesetzgebungsprozessen im Bereich der Steuer- und Sozialtransferpolitik statistisch signifikant weniger oft auf evidenzbasierte und gleichstellungssensitive Informationen zurück als ihre linken KollegInnen.

Offensichtlich ist die Nachfrage nach wissenschaftlich fundiertem Wissen in diesem Themenbereich allgemein nicht übermässig aktiv. Ausserdem erweist sie sich als deutlich vom politischen Standpunkt abhängig.

Es wäre also illusorisch, anzunehmen, das Interesse an wissenschaftlichen Resultaten sei grundsätzlich gegeben und zwischen Disziplinen, Themenbereichen und entsprechend zuständigen Akteuren homogen verteilt. Deshalb sollte jedes Kommunikationskonzept realistischerweise davon ausgehen, dass Kommunikation zwischen Wissenschaft und Praxis nicht nur sehr nuanciert der konkreten Situation angepasst werden muss (welche Wissenschaft? welche Praxis?), sondern auch davon, dass es dabei nicht nur um eine Bringschuld der Wissenschaft geht, sondern auch um eine Holschuld der Praxis. Sonst riskiert die Wissenschaft, trotz wohlmeinender Ratschläge als Prediger in der Wüste stehen zu bleiben.

 

02.12.2014

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Prof. em. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Michael Graff, Volkswirtschafter, ETH Zürich; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Bern; Prof. Dr. Kurt Imhof, Soziologe, Universität Zürich; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Dr. oec. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Dr. h.c. Beat Sitter-Liver, Philisophischer Ethiker, Universität Freiburg (Schweiz); Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel, Liliana Winkelmann, M.A., MAS MDI - Managing Diversity, Zürich.

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