Ökonomisierung der Bildung? Wirtschaftsentwicklung und Transformationen im Bildungswesen
Autorin/Autor: Thomas Kesselring
Von Kontrapunkt* vom 7. November 2016
„Wirtschaftspolitik heisst heute Bildungspolitik – und Bildungspolitik ist auch Wirtschaftspolitik.“
Rudolf Strahm: Das Roboter-Syndrom. Kolumne Tagesanzeiger, 10.05.2016
„Erweiterung und Ausbreitung der Bildung (…) gehör[en] unter die beliebten nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart.“ Wir betrachten „den Nutzen als Ziel und Zweck der Bildung, noch genauer den Erwerb, den möglichst grossen Geldgewinn.“
Friedrich Nietzsche: Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten [1872]
[Kurzfassung; Langfassung zeigen (PDF)]
Das Schlagwort von der Ökonomisierung der Bildung drückt ein Unbehagen aus. Worauf beruht es? Zur Klärung dieser Frage will der folgende Text beitragen, indem er eine Reihe von Aspekten der kapitalistischen Wirtschaft einerseits und des Bildungswesens andererseits nebeneinanderstellt. Dieser Gegenüberstellung liegt die Hypothese zugrunde, dass zwischen den Transformationen, die zum Entstehungsprozess des heutigen globalisierten Kapitalismus geführt haben, und den Transformationen, die wir in den letzten Jahrzehnten im Bildungswesen erlebt haben, zum Teil enge Parallelen bestehen. Die meisten Veränderungen im Bildungswesen erfolgten (und erfolgen noch immer) zeitverschoben – Jahrzehnte, ja zum Teil mehr als 100 Jahre später als in der Wirtschaft. Dafür verlaufen sie schneller. Es fehlt auch nicht an Gegenbewegungen, v.a. mit dem Ziel, den Wandel zu bremsen und „altbewährten“ oder auch neueren, „alternativen“ Bildungsformen Raum zu geben. Doch Gegenbewegungen sind per definitionem nicht der Mainstream.
Gegenstand des Papiers sind die Parallelen selber, nicht die Aufdeckung der zugrunde liegenden Kausalitäten. Diese können unterschiedlicher Natur sein – Druck und Zwang, Anregung, Übernahme von Einstellungen aus dem einen Bereich in den anderen usw. Einflüsse können in die eine oder in die andere Richtung verlaufen, sich auch gegenseitig durchdringen und verstärken. Ich konzentriere mich auf die Parallelen selber und will sie – jeweils durch Gegenüberstellung der einander entsprechenden Aspekte in der Wirtschaft und im Bildungswesen – in den folgenden zehn Punkten darlegen:
- Zunehmende Abhängigkeit vom Markt;
- Privatisierungstrend;
- Zunehmender Wettbewerb;
- Abnehmender Kooperationsgeist ;
- Pseudo-Autonomie und Akzentuierung des Wohlstandsgefälles [mit den Aspekten i) Verschärfung der sozialen Ungleichheit und das Recht des Stärkeren, ii)Verlagerung der Autonomie auf die Firmenebene, iii) Schmälerung der individuellen Autonomie, iv) Umkehrung der Relation von Ziel und Mittel];
- Entstehung von Oligopolen [im Bildungswesen: i) auf dem globalen Hochschulmarkt, ii) im ausseruniversitären Bildungsmarkt, iii) in den Bereichen Bildungsplanung, Bildungsforschung und Bildungsevaluation];
- Technische Fertigung als Grundlage und Vorbild;
- Exzessiver Quantifizierungstrend;
- Rationalisierung, Effizienzsteigerung und Beschleunigung;
- Verkehrung des Verhältnisses zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem [mit den Aspekten i) Der Tauschwertverdeckt den Gebrauchswert, ii) Gewinnmaximierungsprinzip, iii) Werbung, Reklame, iv) Abschleifung von Wertmassstäben, v) Wettbewerb um des Wettbewerbs willen, vi) Kriminalität bzw. Bluff und Betrügereien].
Fazit: Die in zehn Punkten thematisierten Parallelen zwischender kapitalistischen Marktwirtschaft und dem heutigen Bildungswesen sind weder trivial noch ein blosses Oberflächen-Phänomen. Die Regeln der kapitalistischen Wirtschaft und die damit verbundenen mentalen Einstellungen haben sich, wie die aufgezeigten Parallelen belegen, tief in eine lebensweltliche Sphäre eingegraben, die mit Ökonomie ursprünglich nichts oder kaum etwas zu tun hatte. Natürlich könnte man da und dort auch Parallelen zu anderen Bereichen der Gesellschaft aufdecken – etwa zum Gesundheitswesen. Bei manchen Punkten aber – etwa bei der Tendenz zur Quantifizierung oder der Verkehrung von Wesentlichem und Unwesentlichen – dürften die Parallelen zu den übrigen sozialen Bereichen weniger weit gehen, falls sie nicht gänzlich fehlen. Das Bildungswesen stellt eine wesentliche Voraussetzung für das Funktionieren der Wirtschaft dar. Gleichzeitig ist es gegenüber der marktwirtschaftlichen Logik aber auch besonders exponiert und für ihre Einflüsse besonders empfänglich. Es ist deshalb für eine Vielzahl von Pervertierungen anfällig, die man sich erst einmal klar machen muss, wenn man wirksam gegen sie angehen will.
* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Michael Graff, Volks wirtschafter, ETH Zürich; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. em. Dr. Wolf Linder, Bern; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Franz Schultheis, Soziologe, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.