Was hat die Finanzkrise mit Populismus zu tun?

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Von Kontrapunkt* vom 25. Oktober 2018

Finanzkrisen kommen überraschend. Jedes Mal glauben wir, dass sie einmalig und neu sind. Sie verlaufen jedoch meistens nach einem einfachen Muster, das sich wiederholt: Hochkonjunktur macht leichtsinnig, verleitet zu grossen Risiken und heizt Börsenkurse an. Plötzlich ruft jemand wie im Märchen, dass der König nackt sei. Panik bricht aus. Preise und Kurse fallen. Eine wirtschaftliche Depression ist  unvermeidbar. Die Arbeitslosigkeit nimmt zu, Steuereinnahmen werden kleiner und Staatschulden steigen. Die Verunsicherung steckt die ganze Gesellschaft an. Populistische Strömungen haben Zulauf. Zehn Jahre nach der Krise krassiert heute Populismus wie kaum zuvor.

Der Zusammenhang zwischen Populismus und Finanzkrise ist historisch belegt. Finanzkrisen setzen Ängste frei, die von Populisten bewirtschaftet werden. Populismus bezeichnet volksnahe Bewegungen, die sich der Demagogie bedienen, um   politischen Einfluss zu nehmen. Die Finanzkrise 2008 lieferte ihm dazu Nahrung.  Zehn Jahre danach fällt jedoch auf, dass die Frage der Verantwortung für die Krise und die Aufarbeitung ihrer schweren wirtschaftlichen Folgekosten kaum mehr das Hauptthema des heute zu beobachtenden Populismus sind. Vertreter der Finanzmärkte sind über diese Entwicklung kaum unglücklich. Sie können in ihrem Schatten ungeschoren zu Business as usual zurückkehren.

Der Auslöser der heute immer noch nicht ganz ausgestandenen Finanzkrise ist klar: Hypothekarkredite an nicht solvente Kunden in den USA und deren Verpackung in „russische Puppen“ vertuschten die involvierten Risiken. Diese „kreativen Finanzprodukte“ waren die Antwort der Banken auf ihre populistischen Versprechen einer schnellen Immobilienrendite. Als darauf dem Finanzsektor Manipulation und Irreführung armer Bevölkerungsschichten zum Vorwurf gemacht wurden, machten die Vermögensverwalter geltend, dass auch die Politik  populistisch Hauseigentum für alle versprach.

Bewegungen wie Occupy Wallstreet, aber auch der Wahlkampf von Donald Trump liefern Anschauungsunterricht, wie sich Populismus im Verlauf der Krise ausweitete. Keine dieser populistischen Strömungen machte konkrete Vorschläge, wie das verlorene Vertrauen in die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger wieder hergestellt werden kann. Im Gegenteil: Die  explosionsartige Entwicklung des Finanzsektors wurde weiterhin als Erfolg gepriesen und zudem  gab es keine ernsthaften Versuche, den rasanten wirtschaftlichen Strukturwandel in einen geordneten Ablauf zu bringen. Gefahren neuer Technologien, die der Globalisierung zu Grunde liegen, wurden in der start-up Euphorie des „Silicon Valley“ unterschätzt, und die notwendige, langfristig ausgerichtete Ökologisierung  der Wirtschaft verschleppt.

Theoretisch hätte die Finanzkrise – als Auswuchs des Turbokapitalismus – das linke Lager stärken müssen. Weit verbreitete Strassenproteste brandmarkten die Hochfinanz in altbewährter Manier als Klassenfeind, wie Beispiele in  mehreren europäischen Ländern, von „La France insoumise“ und „Attac“ bis zur deutschen „Die Linke“ heute noch zu beobachten sind. Doch die Migrationsproblematik stärkte einen Populismus, der die  Arbeits-, Hilf- und Perspektivenlosigkeit dahingehend bewirtschaftete, dass er nicht demokratische Kontrolle des Finanzsektors, sondern nationale Nestwärme und Linderung von internationalen Konkurrenzängsten versprach.

Dem Finanzsektor kommt dieser Populismus gelegen, da er „im Namen des Volkes“ von seinen Verfehlungen ablenkt. Er hat ja bei jeder Gelegenheit „Selbstverantwortung“ gefordert. Während der letzten Finanzkrise war jedoch kein einziger Finanzchef bereit, Verantwortung zu übernehmen. Sie möchten uns glauben machen, dass sie nicht an dieser tiefen Krise schuld sind, die das internationale Finanzsystem an den Rande eines Kollaps brachte. Schuld daran sei der Staat, der eigentlich die Instanz wäre, die eine Übernahme von Verantwortung wirksam einklagen könnte. Dieser wird jedoch von den Populisten systematisch verunglimpft und geschwächt.

Der Staat und seine Institutionen sind deshalb kaum mehr in der Lage, den Finanzsektor effizient zu kontrollieren. Es scheint, als ob dessen  Geschäftsmodell die ganze Wirtschaft unterwandert habe. Ein ungutes Gefühl breitet sich in der Gesellschaft aus, dass heute Fairness und respektvoller partnerschaftlicher Umgang im Geschäftsleben weniger zählen als das Erzielen von kurzfristigen Gewinnen.

Der Ruf nach  „weniger Staat“ versucht, Reformen durchzusetzen, die in erster Linie finanziellen Interessen dienen. Erzielung von Marktmacht scheint dabei wichtiger  zu sein als das Einhalten der Regeln der Marktwirtschaft. Wir wissen, dass Gewinne höher sind, wenn die Konkurrenz durch Bankenkonzentrationen eingeschränkt wird. Zehn Jahre nach dem Ausbruch der Finanzkrise  sind Grossbanken noch grösser geworden. Sie wollen bestimmen, wie eine ihnen genehme Regulierung aussehen sollte. Es klingt wie ein Hohn, wenn Finanzkapitäne sich über den Konkurrenzdruck der internationalen Märkte beklagen, dabei noch stärker werden wollen und dazu vom Staat mehr Entscheidungsfreiheit verlangen.  Flexibler Arbeitsmarkt und Steuersenkungen sind dafür die meistgestellten Forderungen. Es geht jedoch kaum um Stärkung der Konkurrenz, sondern eher um Absicherung und Steigerung von Profit.

Vertreter der national-konservativen Strömung in den USA, die sich nach dem Ende des kalten Krieges auch in Europa ausbreitete, sehen sich oft als Marktliberale. Als Verfechter von „weniger Staat“ sind sie zugleich gefährliche Vereinfacher, die den Populisten Schützenhilfe leisten. Sie demonstrieren damit ihr gestörtes Verhältnis zu den Werten der Aufklärung, welche für individuelle Entfaltung und gegen Bevormundung einsteht. Der von ihnen geforderte Entscheidungsfreiraum bedingt im Gegenteil Abhängigkeit von Grosskonzernen und Unterwerfung unter eine kurzfristige wirtschaftliche Logik, der sich vor allem Finanzakteure verschrieben haben.

Mit dem Wahlsieg von Donald Trump ist manchem klar geworden, wo die Gefahren für die individuelle Freiheit lauern. Geschäfte haben Priorität. Falls sich jedoch unsere Gesellschaft nur noch an finanziellen  Kriterien messen sollte, würde längerfristig unsere nach dem Gesellschaftsvertrag ausgerichtete Verfassung ausgehebelt. Dieser Vertrag verteilt Rechte und Pflichten für alle. Er drückt sich nicht in Kaufkraft, Vermögen und Einfluss aus, sondern in Offenheit, Respekt und Toleranz, die immer noch als Erklärung des schweizerischen Erfolgsmodells beschworen werden. Bei uns bringt kaum der Staat die individuelle Freiheit in Gefahr. Er schützt sie, Wirtschaftsmacht hingegen schränkt sie ein.

Die Finanzkrise hat eine herkömmliche Wirtschaftspolitik in vielen Bereichen in Frage gestellt und aufgezeigt, dass es keinen Markt geben kann, der ohne rechtsstaatlich gesetzte Regeln funktioniert. Populismus kann leicht dazu benützt werden, verschärfte Regeln für die Finanzmärkte zu torpedieren, indem er zum Beispiel auf andere Themen ablenkt, wie Massenimmigration aus Mexiko oder anderswo. Er wird auch heute dazu benützt, um immer wieder vor „Überregulierung“ zu warnen. Beide Themen finden in der Politik Resonanz. Die Abschwächung der „Dodd-Frank“ Regulierung in den USA ist seit Mai dieses Jahres Tatsache. Diese strenge Finanzregulierung wurde als Antwort auf die Krise 2010 in Kraft gesetzt und hat kaum acht Jahre überlebt.

Populisten haben bereits früher in der europäischen Geschichte unsägliches Leid verursacht. Dies in Zukunft zu verhindern, müsste eigentlich genügend Energie freisetzen, um der populistischen Rechtfertigung der gängigen Funktionsweise der Finanzmärkte ein Ende zu setzen.  Die Urheber  der Finanzkrise spielen sich jedoch heute als Retter des Wohlstands auf, als sei, ausser  Staatsversagen, nichts gewesen.

Die rasante Entwicklung des Finanzsektors stellt einen Tabubruch gegenüber der klassischen liberalen Lehre dar, die  auf eine strikte Trennung zwischen Real- und Geldwirtschaft pochte. Mit der Behauptung, Risiken zu diversifizieren, hat sich dieser Sektor in seiner eigenen Logik verrannt. Gefahren einer möglichen Krise wurden schlicht verkannt.  Zu verlockend war die Aussicht auf Gewinne, die nicht selbst zu erarbeiten sind. Damit ist die ganze Gesellschaft gefordert, wenn es darum geht, die Risikobewirtschaftung neu zu definieren. Sie kann sich nicht weiterhin auf den Finanzsektor verlassen, der ihr dafür die Verantwortung abnimmt. Die Krise hat gezeigt, dass der Finanzsektor weder herkömmliche Risiken, noch neue, besonders im Bereich der Umwelt, im Sinne des Gemeinwohls einschätzt.

Die Bereitschaft der gesamten Gesellschaft, Risiken zu erkennen und darauf aufbauend den Finanzmärkten entsprechend klare Regeln zu setzen,  ist eine der Bedingungen, damit der Stimmbürger und Steuerzahler nicht wiederum ungewollt zum Versicherer der letzten Instanz wird. In der letzten Krise hatte er nichts zu sagen und musste sich auf den Staat verlassen, um eine grössere Krise zu verhindern. Vertreter der Finanzwirtschaft weisen darauf hin, dass die Bankenrettung für den Staat schliesslich einen Gewinn abgeworfen habe. Sie blenden dabei alle langfristig wirkenden und indirekten Kosten der Krise aus.

Populismus mag Verantwortungen vertuschen, strengere Regulierungen des Finanzsektors verhindern, und mit Angstbewirtschaftung bestehende Machtverhältnisse festigen, zukunftsfähig ist er aber nicht. Er kann nicht langfristig über den demokratischen Kontrollverlust über die Finanzmärkte und die damit zusammenhängenden Zentralbanken hinwegtäuschen, die im Verlaufe der Finanzkrise eine nie zuvor gekannte Kompetenzerweiterung erfuhren. Ihr Hauptziel wurde es nun, unbegrenzt den internationalen Finanzmärkten zur Hilfe zu eilen, ohne dazu die Stimmbürger  fragen zu müssen.

Anstatt Populismus sind  grundlegende Reformen nötig, die wir eigentlich gut kennen, aber nicht umsetzen:

  • Um die too big to fail Problematik zu entschärfen, braucht es eine weit grössere Eigenkapitalquote, als jene, die in den politischen Instanzen zur Diskussion steht. Zudem müssen Haftpflichtregeln für Banken und ähnliche Institute  verschärft werden.
  • Der Machtkonzentration des Finanzsektors kann mit Zerschlagung oder Aufteilung  von Grossbanken begegnet werden. Die USA haben dies mit ihrer Antitrust Legislation bereits in den zwanziger Jahren in anderen Bereichen erfolgreich vorgemacht.
  • Die Funktionsweise der Zentralbanken muss strenger auf den Finanzsektor ausgerichtet werden. Wenn sich die internationalen Finanzmärkte weiterhin unstabil verhalten, macht es keinen Sinn, nur Preisstabilität garantieren zu wollen. Die Gefahren einer noch schwereren Krise sind damit nicht gebannt.

 

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Prof. Dr. Marc Chesney, Finanzwissenschaftler, Universität Zürich; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr.; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. em. Dr. Wolf Linder, Bern; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.

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