Bildung und Bullshit. Über die Gefährdungen von Verantwortlichkeit

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Harry Frankfurts Essay über „Bullshit“ und seine Ausbreitung in Politik und Medien wurde zum Verkaufsschlager. „Quatsch“ und „leeres Gerede“ – so könnte man „Bullshit“ prima facie übersetzen – breiten sich inzwischen auch im Bildungswesen aus. Was sind die Gründe?*

1.

Das englische Wort „Bullshit“ lässt sich schwer auf Deutsch übersetzen: Der Ausdruck „Stierenmist“ ist völlig unüblich. Natürlich fungiert „Bullshit“ als Bild, als Metapher. Wofür steht sie? Gemäss Harry Frankfurts berühmter Begriffsanalyse fallen unter die Kategorie „Bullshit“ Äusserungen, die an eine Lüge grenzen, ohne wirklich eine Lüge zu sein.

Frankfurt diskutiert mehrere Beispiele. Da ist erstens der Austausch von Belanglosigkeiten, der Small Talk, das Blödeln. Doch das alles hat mit Lügen nicht viel zu tun – genauso wenig wie der Flirt. Es ist nicht wirklich „B“. Da ist zweitens der Bluff, die Selbstanpreisung. Für viele Autoren ist Bluff das Paradebeispiel für „B“.

Die Sicht Frankfurts ist differenzierter. Er schreibt zwar: „Bullshitten [ist] dem Bluffen näher als dem Lügen.“ (Frankfurt 2006, 53). Trotzdem hält er „B“ und Bluff nicht für dasselbe: „B“ ist krasser als Bluff, und zwischen beiden steht das Lügen. Wenn wir merken, dass jemand blufft, wenden wir uns einfach ab oder zucken die Schultern. Wenn wir hingegen entdecken, dass uns jemand anlügt, fühlen wir uns verletzt. Lügen ist also gravierender als Bluffen. „Bullshiten“ allerdings ist noch gravierender. Nach den Ausführungen Frankfurts „fördert das Lügen nicht in derselben Weise die Unfähigkeit zur Wahrheit, wie dies für das Bullshitten gilt.“ Denn wer lügt, hält zumindest an der wahr-falsch-Unterscheidung fest.  Wenn sich hingegen jemand „exzessiv dem Bullshitten hingibt (…), kann seine normale Wahrnehmung der Realität (…) verlorengehen. (…) Aus diesem Grunde ist Bullshit ein grösserer Feind der Wahrheit als die Lüge.“ (67f.) – Was also ist „B“? Antwort: Alles Gerede, das unter der Voraussetzung erfolgt, man könne nicht sinnvoll zwischen wahr und falsch unterscheiden. Solches Gerede ist wie heisse Luft, die man ausatmet; oder wie eine körperliche Ausscheidung ohne Form und ohne jeden Gehalt – „Bullshit“ eben.

Eine wesentliche Ursache von „B“ sind – Frankfurt zufolge – weit verbreitete „Formen eines Skeptizismus, der uns die Möglichkeit eines zuverlässigen Zugangs zur objektiven Realität abspricht und behauptet, wir könnten letztlich gar nicht erkennen, wie die Dinge wirklich sind.“ (71f.) Es stimmt zwar: Unsere Wirklichkeit ist perspektivisch. Und aus jeder Perspektive sieht sie anders aus. Wie wir etwas wahrnehmen, hängt auch von unserer Erfahrung und unseren Einstellungen ab. Daraus zu folgern, es gebe keinen verlässlichen Zugang zur Realität, also keine Wahrheit, wäre  aber ein Fehlschluss. Ja, es gibt unzählige unterschiedliche Perspektiven. Aber wir können sie, die meisten jedenfalls, bis zu einem gewissen Grade koordinieren! Was immer wir über die Wirklichkeit wissen, wir verdanken es der Koordination unterschiedlicher, perspektivisch bedingter Ansichten. Wenn es Wahrheit nicht gäbe, wäre auch der Satz, der eben dieses behauptet, nicht wahr.

„B“ resultiert also aus Behauptungen wie: Jeder Wahrheitsanspruch ist unsinnig! Oder: Jede Wahrheit ist geschichtlich bedingt! Oder: Wissen hat eine immer kürzere Halbwertszeit! Diese Behauptungen beziehen sich alle auch auf sich selbst und heben damit ihren eigenen Wahrheits- und Wissensanspruch auf. Wenn alles Wissen immer schneller vergilbt, dann auch das Wissen darum, dass Wissen vergilbt. Der Relativist widerspricht sich also selbst.

Hat man erst einmal die Unterscheidung zwischen  wahr und falsch aus den Angeln gehoben, so kann man fortfahren und noch weitere wichtige Wert-Unterscheidungen aushebeln – etwa die zwischen wesentlich und unwesentlich oder zwischen gut und nicht gut. Auch hier verwickelt man sich in einen Widerspruch. Das zeigt sich in Sätzen wie: Es ist gut, wenn man nicht klar zwischen gut und nicht gut unterscheidet.

In Wirklichkeit sind diese Unterscheidungen unhintergehbar. Wer sie in Abrede stellt, verhält sich wie jemand, der seinen Werte-Kompass – statt ihn in Zeiten eines Wertewandels immer wieder neu zu justieren – wegwirft (oder in die hinterste Schublade verbannt). Was man ohne diesen Kompass zustande bringt, ist dann eben – Bullshit.

2.

 Man kann lange darüber streiten, was wir unter Bildung verstehen wollen. Hier nur ein paar Andeutungen. Bildung schliesst zweierlei ein: die Fähigkeit, vernünftige, klare Entscheidungen zu treffen, also ein klares Urteil, und die Fähigkeit, diese konsequent, aber zugleich rücksichtsvoll umzusetzen, also Verantwortungsfähigkeit. In Abwandlung eines berühmten Satzes von Immanuel Kant kann man sagen: Verantwortungsfähigkeit ohne klares Urteil ist blind, und ein klares Urteil ohne Verantwortungsfähigkeit ist leer. Eigenverantwortung gehört essenziell zur Bildung. Bilden kann sich jeder nur selbst. Man kann nicht durch jemanden anderen gebildet werden.

Hier noch einmal Kant: Aufklärung, schrieb er fünf Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution – Aufklärung ist „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Selbstverschuldet – man kann auch sagen: selbstverantwortet – ist diese, wenn man andere für sich denken lässt – einen Arzt, einen Pfarrer, einen Anwalt, einen Seelsorger… (Kant 1978, 53).

Wie steht es um die Aufklärung heute? Und um Bildung? Wir leben in der privilegierten Situation, nicht nur von Dutzenden Spezialisten umgeben zu sein, sondern auch von ausgesprochen cleveren, vielseitigen Maschinen, an die wir einen guten Teil unserer Denkprozesse delegieren können. Viele Entscheidungen fällen wir interaktiv mit Impulsen aus dem „Netz“. Das bietet uns eine Menge unbestrittener Vorteile, konfrontiert uns aber auch mit Risiken. Weder der PC noch das Internet entscheidet für uns, was wichtig und was unwichtig, was wahr und was falsch, was gerecht und was ungerecht ist.  Computer operieren algorithmisch. Anders als Ärzte, Pfarrer und sonstige leibhaftige Spezialisten, haben sie keinen freien Willen.

Durch Aufzeichnung unserer elektronischen Surfbewegungen sind Computer jedoch in der Lage, unsere Vorlieben immer genauer zu rekonstruieren, und das heisst zugleich: Sie sehen unsere Entscheidungen immer besser voraus. „Was bedeutet es (…) für unsere künftige Einschätzung der eigenen Willensfreiheit“ – so fragt der deutsche Journalist Frank Schirrmacher -, „wenn wir erkennen müssen, dass der Computer vor uns gewusst hat, was wir wollen werden?“ (Schirrmacher 2009, 103)

Anders als wir, verfügen elektronische Medien zudem über ein fast grenzenloses Gedächtnis. Das nutzen wir, indem wir unsere Gedächtnisleistungen zunehmend an sie „outsourcen“, auch wenn niemand die Haltbarkeitsdauer dieser neuen Gedächtnisspeicher kennt.

Robert Menasse, ein österreichischer Philosoph und Schriftsteller, diagnostiziert für die Gegenwart einen Prozess der „Abklärung“. Nicht in dem Sinn, dass wir heute besonders „abgeklärt“, stoisch, genügsam wären. Nein: Die Aufwärtsbewegung von einst – die Aufklärung – ist in eine Abwärtsspirale, einen Abschwung übergegangen. Damit komme ich zur dritten Frage.

3.

Warum ist Frankfurts Analyse von „B“ ein Bestseller? Vermutlich weil heute sehr viel „B“. produziert wird. Zu den Gründen äussert Frankfurt zwei Vermutungen: Zum einen grassieren die schon erwähnten Formen eines Relativismus und Wahrheits-Skeptizismus. Zum anderen sprechen Menschen gerne über The­­­men, über die sie nicht genügend Bescheid wissen. Dies werde durch die Gepflogenheiten der Demokratie noch gefördert (71). Politiker und Stimmbürger müssten immer wieder über Dinge reden und mitentscheiden, von denen sie nicht genug verstünden. – Die Demokratie als Promotor von „B“? Das ist wohl nicht völlig falsch, klingt aber auch nicht sehr plausibel. Ich glaube, Frankfurt übersieht hier etwas Wesentliches und gerät deswegen auf eine falsche Fährte.

In seiner Analyse kommt das Wort „Marketing“ kein einziges Mal vor. Marketing, Propaganda, Werbung durchdringen den Alltag heute in all seinen Sparten. Wir sind fast ständig Impulsen ausgesetzt, die in uns Kaufgelüste wecken sollen. Vor Abstimmungen werden wir mit Wahlpropaganda zugedeckt. Doch das ist nicht alles. Marktwirtschaftliche Strategien bestimmen auch das Verhalten des Einzelnen. Das ideale „Ich“ funktioniert wie ein Unternehmen, ein „Ich-Unternehmen“, und Selbstvermarktung gehört zu seinen Überlebensstrategien.

Damit sind wir wieder beim Thema Bluff: Wo verläuft die Grenze zwischen Selbstvermarktung, Selbst­darstellung und Bluff? In allen drei Fällen wird die wahr-falsch-Unterscheidung nicht sonderlich ernst genommen. Wer blufft, will nicht überzeugen, sondern überreden, bezirzen, verführen –  mit  allen möglichen Tricks, darunter auch ganz charmanten, wie etwa dem story telling. Eine Geschichte muss nicht wahr sein, sie muss gefallen oder berühren!

Welchen Werten ist Marketing verpflichtet? Ich vermute: keinen, jedenfalls keinen, über die es einen Konsens gäbe; das erklärt vielleicht die in Wertfragen heute herrschende Konfusion. Gegenstand eines Geschäfts kann praktisch alles sein, einschliesslich Waffen, Geldwäscherei, Drogen, wenn es irgendwem, wie es so schön heisst, einen „Mehrwert“ bringt. Marketing gilt als gelungen, wenn es den Umsatz ankurbelt, und diese Ankurbelung wiederum steht im Dienste der Gewinnsteigerung. Andere Kriterien erscheinen nebensächlich.

Der Umsatz steigt auch, wenn die Haltbarkeit der Waren durch einprogrammiertes Kaputtgehen künstlich herabgesetzt wird (Schirrmacher 2013, 242). Er steigt, wenn es gelingt, die Konsumenten süchtig oder abhängig zu machen. Er steigt aber auch dank modischem Produkt-Design. Wechselt die Mode, werden die Besitzer ihr Auto, ihre Brille, ihre Swatch alsbald ersetzen.

Der Markt verrät nur den Preis, nicht den Wert einer Sache. Was wertvoll ist und was nicht, muss der Konsument entscheiden, und der gilt als mündig. Woher auch immer er seine Wert-Überzeugungen bezieht, die Werbung hilft ihm dabei nicht. Ein zuverlässiges Wertesystem kann aber nur aufbauen – das ist trivial –, wer sich nicht von Bullshit vereinnahmen lässt.

Wo liegen nun die Quellen der „B“-Produktion? In der Demokratie? Im Markt? Ich denke, wir sollten noch eine Etage tiefer steigen: Bullshit spriesst vor allem da, wo wir uns Wett­bewerbszwängen unterordnen, also zum Teil in der Wirtschaft, aber keineswegs nur in der Wirtschaft.

Das verbreitete Loblied auf den Wettbewerb ist vor allem aus drei Gründen problematisch. Erstens gibt es (worauf Mathias Binswanger, 2010, 56, hinweist) destruktive Formen des Wettbewerbs. Ein Boxkampf zum Beispiel. Nur einer siegt, alle anderen werden k.o. geschlagen, vielleicht sogar verletzt. Andere Beispiele eines destruktiven Wettbewerbs sind Wettsaufen, private Auto-Strassenrennen, Russisches Roulette  und in Zukunft wohl immer mehr auch der Wettbewerb um knappe Ressourcen, Wasser etwa oder Agrarflächen.

Zweitens führen Wettbewerbe (auch solche, die nicht an sich destruktiv sind) oft zu unsinnigen Resultaten, nämlich wenn sie künstlich inszeniert und mit falschem Anreizsystem versehen werden. Indien – um ein Beispiel zu nennen – hat einmal zur Bekämpfung von Giftschlangen ein Programm ausgerufen, das für jede getötete Giftschlange eine lukrative Auszahlung versprach. Das Resultat war nicht, dass Giftschlangen seltener wurden, sondern im Gegenteil, dass man sie massenhaft zu züch­ten begann.

Drittens spricht gegen die Verabsolutierung des Wettbewerbs noch ein ganz grundsätzlicher Umstand: Wenn in der Natur, wie die Evolutionstheorie lehrt, allenthalben der Wettkampf regiert, wie soll man dann die Entstehung von Kooperation erklären? Ohne Kooperation wäre die menschliche Kultur nie entstanden. Weil der omnipräsente Konkurrenzkampf die Lebewesen zu vielfältigen Strategien der Tarnung, der Camouflage, des Bluffs, der Irreführung und Täuschung zwingt, mutet es rätselhaft an, wie jemals eine auf Wahrheit ausgerichtete Kommunikation entstehen konnte.

Dieses Rätsel ist schon zu Darwins Lebzeiten einem jungen deutschen Schriftsteller auf­gefallen. Im Interesse der Selbsterhaltung benutzen Individuen ihren „Intellekt zumeist nur zur Verstellung“, schrieb er. „Woher [also], in aller Welt, bei dieser Konstellation der Trieb zur Wahrheit!“ Es war Friedrich Nietzsche, der diese Frage stellte (Nietzsche 1964, S.607).

Er selbst gab folgende Antwort: Das Bestreben des Menschen, „wenigstens das allergrösste bellum omnium contra omnes“ zu überwinden, sei „der erste Schritt zur Erlangung jenes rätselhaften Wahrheitstriebes“ gewesen (a.a.O.). Bekanntlich betrachtete Nietzsche diesen sog. Trieb zeitlebens mit grösstem Argwohn. Und so übersah er die Schlussfolgerung, die man aus seiner Antwort eigentlich ziehen müsste:  Ein zivilisierter Wettbewerb kann sich bloss auf der Grundlage kooperativer Beziehungen entwickeln. Der Wettbewerb bleibt nur friedlich bzw. fair, wenn die Beteiligten gewisse Spielregeln einhalten, die für alle gelten. Das ist Kooperation.

Wer in allem und jedem auf den Wettbewerb setzt, statt auf Kooperation, unterminiert damit die Basis, auf der allein Wettbewerbe einigermassen gesittet ablaufen.

4.

Im letzten Teil nun ein paar Bemerkungen über den Wettbewerb im Bildungsbereich. Dieser spielt ja auf allen Bildungsniveaus eine enorme Rolle. Betrachten wir die Hochschulebene: Ähnlich wie Firmen, die Flugzeuge herstellen, stehen die Universitäten zueinander im Wettbewerb. Flugzeugfirmen produzieren aber für einen Markt, was man von den Universitäten nicht in gleicher Weise sagen kann. Vielmehr konkurrieren sie um Exzellenz, und dieser Wettbewerb ist institutiona­lisiert. Natürlich ist nichts dagegen einzuwenden, dass man die Qualität der Leistungen in tertiären Ausbildungs- und Forschungsinstitutionen vergleicht, wenn sich ein solcher Vergleich seriös durchführen lässt und zur Qualitätsverbesserung beiträgt. Doch für die Qualität der Lehre steht uns kein allgemeingültiger Mass­stab zur Verfügung – ebenso wenig wie für die Relevanz und Originalität von Forschung. Stattdessen vergleicht man Dinge, die quantifizierbar sind – die Menge eingeworbener Drittmittel zum Beispiel und die Menge an Publikationen. Diese wird nach der Anzahl veröffent­lichter Seiten gewichtet und mit einem „Impact-Factor“ multipliziert, der sich aus dem Ranking der Journals ergibt. Die Wissenschaftler stehen untereinander ebenfalls in Konkurrenz: Wer publiziert wieviel, wer wird wie häufig zitiert und von wem? usw. Doch dass ein Artikel zitiert wird, bedeutet nicht, dass er auch gelesen wird: „die meisten Arbeiten werden (…) ungelesen zitiert“, mutmasst Binswanger (2010, 171). Längst spriessen auch die sogenannten Zitierkartelle. Das sind Zusammenschlüsse von Akademikern, die sich gegenseitig so fleissig wie möglich zitieren. Je aktiver das Kartell, desto grösser die Chancen der Mitglieder, in der Hierarchie aufzustei­gen.

Kein Wunder, dass im Wissenschaftsbetrieb auch der Bluff floriert. Am unbeholfensten manifestiert er sich im Herunterladen oder Kopieren von Textpassagen ohne Quellenangabe. Diese Strategie bewegt sich jenseits der Grenzen der Redlichkeit. Weniger anfällig gegen die Entdeckung ist die Strategie, eine wissenschaftliche Arbeit bei einem gewieften Schreiberling in Auftrag zu geben. Wenn Karl-Theodor zu Guttenberg (der ehemalige dt. Verteidigungs­minister) auf den Vorwurf, seine Dissertation sei voller Plagiate, erstaunt reagierte, so vermutlich deswegen, weil er seinen Ghostwriter für eine ehrliche Haut gehalten hat.

Mit der Pflege der Wettbewerbskultur im Bildungswesen verkehrt sich das Wesentliche in Unwesentliches und umgekehrt. Dieser Prozess ist im Übrigen nicht kostenneutral. Die Bildungs­verwaltung wächst um ein Vielfaches schneller als das Ensemble aller Bildungsinstitutionen. Allein die Bürokratie zur Verteilung der EU-Forschungsgelder soll bis zu 40% dieser Gelder verschlingen.

Noch etwas kommt hinzu: Der Bologna-Prozess hat zu einer Angleichung der Hochschulen an wirtschaftliche Unternehmen geführt. Damit mutierte der Rektor zum CEO, der Dozent zum Angestellten, der Unterricht zum Produkt und das Examen zur Produkte-Evaluation. – Dies alles ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber zumindest nicht widersprüchlich. In was aber mutieren die Studierenden? Einerseits in Kapital, nämlich in sogenanntes Humankapital, das es zu bewirtschaften gilt und in das – bitte schön – längerfristig auch die Privatwirtschaft investieren soll; und andererseits in Kunden, die Lernstoff konsumieren wollen (sollen). Wie aber kann Kapital gleichzeitig Kundschaft sein und Kundschaft Kapital? Und weil Firmen dau­ernd innovativ sein müssen, gilt dies auch für Bildungsinstitutionen, nur dass man hier nicht von Innovationen, sondern lieber von Reformen spricht. Diese ergiessen ihren Segen dafür quasi permanent über ihre Schützlinge. Das Kerngeschäft leidet massiv – ein Widerspruch!

Vergleichbarkeit zwischen Hochschulen versucht man zu erreichen, indem man den Unterricht in Module gliedert – eine Art Legobausteine oder – mit einem anderen Bild – Werkzeugkästen, die dazu dienen, sogenannte Kompetenzen zusammen­zubauen. Diese Kompe­tenzen sollen dann anhand von Standards überprüft werden: Zu jedem Modul braucht es ein Examen. Der Aufwand ist erheblich, und entsprechend wächst auch hier die Bürokratie. Nun behaupten viele Erziehungswissenschaftler, der Kompetenz­begriff sei nicht nur nicht klar definiert, sondern auch nicht klar definierbar. Doch selbst wenn er es wäre: An Prüfungen zeigt sich nur die Performanz, d.h. ein bestimmtes Verhalten; daraus können Kompetenzen dann höchstens erschlossen werden. Kompetenzen muss man qualitativ beschreiben, messen aber kann man nur Quantitäten. Der deutsche Wissenschaftsrat gibt das ausdrücklich zu: „Es gibt kein überzeugendes Verfahren zur Kompetenzmessung.“ (zit. nach Wex 2012). Der deutsche Bildungspublizist Peter Wex wundert sich: „Die Akteure und Verantwortlichen des Bologna-Prozesses können nicht aufzeigen, wie Kompetenzen erfasst und geprüft werden – aber alle Lehrenden bescheinigen ebendieses erfolgreiche Gelingen durch das tägliche Ausstellen der Modulzeugnisse.“ Und er kommt zum Schluss: „Mit Fug und Recht kann man (…) von einem grandiosen Selbstbetrug im ‚Kompetenzzentrum‘ Hochschule sprechen.“ (ebd.)

Und das Schulwesen? Das Konkurrenzsystem ist auch dort etabliert, und zwar schon lange: mit dem Selektions­wesen, für das jedes Jahr ein Riesenaufwand betrieben wird. Seit den Timss- und PISA-Studien bahnt sich im Schulwesen nun auch das Benchmarking an – der Qualitätsvergleich zwischen Schulen. Das ist in doppelter Weise problematisch. Erstens lässt sich Bildungs­qualität nicht objektiv messen. Was immer man misst, es drückt die Qualität dessen, was in einer Schule geleistet wird, nicht adäquat aus. Zweitens etabliert man einen Wettbewerb zwischen Schulen, Standorten, Ländern. Zwar wird gern behauptet, Bench­marking diene nicht dazu, „Ranglisten der Schulen zu erstellen. Vielmehr sollen die standar­disierten Messkriterien ermöglichen, den eigenen Entwicklungs­stand durch den Vergleich mit (…) den Werten aller anderen Schulen besser einzuschätzen.“ (Hanft 2001, 21-25).

Doch Bildungsinstitutionen funktionieren nicht wie Planeten. Wenn man die Umlauf­geschwindigkeiten von Planeten misst und vergleicht, dann zwingt man sie nicht in einen Wettbewerb; überhaupt beeinflusst man ihr Verhalten nicht. Das ist bei Institutionen, grundsätzlich anders. Es ist eine Illusion zu glauben, man könne menschliche Leistungen messen, ohne sie zu beeinflussen. In einem Bericht über Sekundarschulen wird denn auch ausdrücklich gesagt, durch Benchmarking solle „ein Lernprozess angeregt werden“ (78). Es ist klar, Ranking verlangt genaue Vorgaben über Lernziele, und die Ausrichtung der Lernprozesse auf diese Ziele grenzt an Konditionierung.

Nochmals: Bildung ist ein autonomer, eigenverantwortlicher Prozess jedes Einzelnen. Weder entsteht Bildung über Entwicklungshilfe durch Dritte noch lässt sie sich erzwingen oder durch Wettbewerbe arrangieren. Das ist nichts Neues. Neu ist vielmehr die Nonchalance, mit der heute die Unterscheidung zwischen intrinsischer und extrinsischer Motivation für Lernprozesse beiseite gewischt wird – so ähnlich wie die Unterscheidung zwischen wahr und falsch oder zwischen Wesentlichem und Unwesent­lichem. Wenn man verkündet, man wolle mit Benchmarking Lernprozesse nicht normieren, aber normiert werden sollten sie trotzdem, dann verstrickt man sich in einen Widerspruch. Widersprüche im Bildungswesen sind zwar nichts wirklich Neues. Neu ist vielmehr die Unbekümmert­heit, mit der man sie einfach hinnimmt und auch noch pflegt.

Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb heute bis ins tertiäre Bildungswesen hinein die Ansicht verbreitet ist, es sei ohnehin alles relativ, deswegen sei es gar nicht so unrichtig, wenn man zwischen richtig und unrichtig nicht mehr richtig unterscheide… Diese Ansicht, wie gesagt, ist Bullshit; Bullshit mit der Wirkung eines Narkotikums.

Gibt es für die beschriebene Situation Verantwortliche? Ja, die Gesellschaft insgesamt. Und der Einzelne? Sie oder er kann sich anpassen, resignieren – oder rebellieren. Bisher hält sich die Rebellion in engen Grenzen. Offenbar empfinden nur sehr, sehr Wenige die Lage als beunruhigend. Gerade das ist am Ganzen vielleicht das Beunruhigendste.

***

Anhang

Nachtrag vom November 2016: Ist mit der Wahl von Donald Trump zum USA-Präsidenten der Bullshit mehrheitsfähig geworden?

Das scheint in der Tat der Fall zu sein, denn Trump hatte sich schon lange vor der Wahl als Prototyp eines Bullshit-Redners präsentiert. Gemäss der Analyse Harry Frankfurts ist der Bullshitter nicht einfach ein Bluffer, auch nicht „bloss“ ein Lügner, sondern jemand, dem es – im Gegensatz zum Lügner – auf die Unterscheidung zwischen wahr und falsch nicht mehr ankommt und der es für unnötig hält, seine Aussagen zu begründen. Mit Bullshit um sich zu werfen, ist sicher nicht das geeignete Mittel, den rasch komplexer werdenden Herausforderungen der Gegenwart zu begegnen.

In Trumps Wahlkampf spielten nicht nur Werte wie Wahrheit oder Gerechtigkeit keine Rolle, sondern auch der Unterschied zwischen Tatsachen und blossen Phantasien/Einbildungen/Bauchgefühlen wurde zunehmend verwischt. Dass Trump mit dieser Strategie gewinnen konnte, deute ich so, dass kommunikativer Bullshit in den USA nun mehrheitsfähig geworden ist!

Neu ist ja nicht die Bullshit-Produktion als solche, neu ist vielmehr, dass sie sich nun als salonfähig, ja geradezu präsidialerwiesen hat. Anders herum sehen sich nun diejenigen, die auf der klaren Unterscheidung zwischen Tatsachen und Bauchgefühlen, zwischen wahr und falsch, zwischen gerecht und ungerecht, zwischen wesentlich und unwesentlich usw. beharren, in die Minderheit versetzt. Das ist ein historisches Novum!

Es reicht also heute nicht mehr, sich auf ethische und liberale Werte zurückzubesinnen, sondern man muss jetzt noch einen Schritt weiter zurücktreten und erst einmal die erwähnten zentralen Unterscheidungen – zwischen wahr/falsch, wesentlich/unwesentlich, gerecht/ungerecht usw. rehabilitieren.

Literatur

Mathias Binswanger: Sinnlose Wettbewerbe. Warum wir immer mehr Unsinn produzieren. Freibg: Herder 2010.

Harry Frankfurt: Bullshit. Frankfurt: Suhrkamp 2006.

Anke Hanft (Hrsg.): Grundbegriffe  des Hochschulmanagements. Neuwied: Luchterhand 2001.

Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (Orig.Dez.1783). Kant, Werke in 10 Bänden, Bd.9, S.53-61. Frankfurt: Suhrkamp 1978.

Jochen Krautz: Ökonomismus in der Bildung: Menschenbilder, Reformstrategien, Akteure. In: Gymnasium in Niedersachsen 1/2013, S.12-16.

Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. (Orig. 1873). Friedrich Nietzsche: Unzeitgemässe Betrachtungen. Stuttgart: Kröner 1964, S.603-622.

Frank Schirrmacher: Payback. München: Blessing 2009.

Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens. München: Blessing 2013.

Peter Wex: Das leere Versprechen der Kompetenzenprüfung FAZ 3.10. 2012, Feuilleton.

*) Zuerst erschienen in: vpod bildungspolitik Nr. 184, Dez. 2013, S.15-17. Die vorliegende Fassung ist durch einen kurzen Anhang zum Bullshit in der Politik erweitert.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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