Die Konkordanzdemokratie – keine blosse Dreisatzrechnung der Machtverteilung

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Von Kontrapunkt* vom 8. April 2008

Am 5. April entscheidet die Delegiertenversammlung der SVP über den Ausschluss ihrer beiden Bundesratsmitglieder aus der Partei. Dass es so weit kommen kann, beruht auf einem doppelten Missverständnis des schweizerischen Konkordanzsystems: Einerseits meint die SVP, sie habe Anspruch darauf, zu bestimmen, wer sie im Bundesrat vertreten dürfe. Anderseits meinen die andern Parteien, sie hätten die Konkordanz gewahrt, indem sie zwei Mitglieder der SVP in den Bundesrat wählten. Die Konkordanz ist aber keine blosse Rechenformel bei der Machtverteilung.

Anlässlich der Bundesratswahl im letzten Dezember riefen alle Parteien zum Respekt der Konkordanz auf. Die Hauptakteure der Abwahl von Christoph Blocher haben sich denn auch davor gehütet, die beiden Sitze der SVP in Frage zu stellen. Diese versuchte, ihren Anführer durch die Ankündigung zu retten, dass sie für die Bisherigen stimmen würde, falls die anderen Fraktionen Gegenrecht halten würden.  Alle behandelten die Konkordanz als Zauberformel für die Zusammensetzung der Regierung.

Aber diese schöne Einstimmigkeit bezieht sich auf ein Zerrbild der Konkordanz. Dieses für das Funktionieren der schweizerischen Institutionen grundlegende Prinzip kann nicht auf eine proportionale Sitzverteilung in der Exekutive und auf die Bestätigung der von den Parteien vorgeschlagenen Kandidaten reduziert werden. Die Konkordanz ist nicht einfach eine Dreisatzrechnung.

Konkordanz ist nicht als Theorie der Machtausübung zu verstehen. Sie resultiert aus praktischer Erfahrung, die allmählich die politischen Akteure dazu gebracht hat, zusammenzuarbeiten, um die Institutionen dieses Landes funktionstüchtig zu machen. Die Konkordanz ist nicht erst aus der Zauberformel von 1959 entstanden, welche zur Aufteilung der Regierungsverantwortung zwischen den vier wichtigsten Parteien führte. Sie stammt vielmehr aus dem Ende des 19. Jahrhunderts, als das Referendumsrecht den Minderheitsparteien die Möglichkeit ab, die damals hegemoniale Macht der Freisinnigen zu kontern. Doch schon vorher hat die föderale Struktur die politische Zentralmacht begrenzt und die Notwendigkeit begründet, Gesetze vorzuschlagen, denen grössere Mehrheiten zustimmen konnten. Die Praxis der Vernehmlassung, d.h. der vorgängigen Konsultation der betroffenen Kreise, begann schon damals, obwohl sie von der Verfassung erst 1947 vorgeschrieben und von da an systematisiert wurde. Die Einführung der Proporzwahl 1919 brachte bereits eine angemessenere Übertragung der politischen Kräfteverhältnisse ins Parlament und zwang die Parteien zu verstärkter Zusammenarbeit. Von da an konnte keine einzige mehr ihre Auffassung alleine durchsetzen.

Die Parteien werden jeweils nach Massgabe ihres erwiesenen Störpotentials in die Exekutive kooptiert: sie müssen beweisen – wie die Konservativen nach 1874 – dass sie in der Lage sind, die Projekte des Parlaments mittels Referendum zu gefährden. Oder aber ihre Teilnahme an der Regierung entspricht der Erfordernis nationaler Einigkeit angesichts der internationalen Situation wie im Fall des Einzugs der Sozialdemokraten in den Bundesrat 1943. Aber die Neuankömmlinge haben für die –Anerkennung ihres Regierungsstatus auch einen Preis zu bezahlen. So wurden die Katholisch-Konservativen, die Verlierer des Sonderbundskrieges, erst 1891 an der Regierung beteiligt, weil sie dann die Legitimität des Bundesstaates anerkannten. Die Sozialdemokraten wurden erst aufgenommen, als sie auf den Klassenkampf verzichtet und die Notwendigkeit der Landesverteidigung akzeptiert hatten.

Die Notwendigkeit, Allianzen zu bilden und Kompromisse auszuhandeln, schliesst die Konfrontation der Meinungen nicht aus. Im Gegenteil, valable Verhandlungen brauchen diese Konfrontation. Aber anders als in einer Konkurrenzdemokratie, die der Mehrheit die ganze Macht gibt und ihr ermöglicht, der Opposition ihren Standpunkt aufzudrängen, verlangt die Konkordanzdemokratie von jedem Partner sowohl, seine Forderungen zu mässigen, als auch seiner Gegner ein Stück weit zu anerkennen. Die Konkordanz führt deshalb noch lange nicht mechanisch zu einer unprofilierten Einstimmigkeit und zu faden Kompromissen, wie es ihre Verleumder behaupten. Sie lässt je nach den behandelten Geschäften wechselnde Mehrheiten entstehen. Sie gestattet punktuelle Oppositionen, die sich über Initiative und Referendum ausdrücken; das Parlament ist durch die Vorhaben des Bundesrates nicht gebunden, genauso wenig wie das Volk durch jene der Legislative. Aber die Konkordanz überlebt nur, wenn keiner der Partner systematisch minorisiert wird. Sie lebt vom Verhandeln, von der Elitekooperation, vom Respekt der Minderheiten. Sie schliesst das Ausspielen von Macht und die Marginalisierung des Gegners aus. Statt dessen fordert sie Zusammenarbeit, und dies sowohl im Bundesrat als auch im Parlament. Die Beteiligung der wichtigsten Parteien an der Exekutive ist nichts anderes als ein Ausdruck dieser Funktionsweise.

Es ist augenfällig, dass die SVP diese Anforderungen nicht mehr respektiert. Die Verachtung, mit der sie ihre Gegner und die Institutionen behandelt, ihr Anspruch, ganz allein den Volkswillen zu verkörpern, stehen im Gegensatz zum Willen zur Zusammenarbeit, zur Verlässlichkeit und zum gegenseitigen Lernen, einen Willen, welchen der Grundsatz der Konkordanz voraussetzt. Genau dies ist das Signal, das die Mehrheit der Bundesversammlung geben wollte, als sie zwei demokratische Magistraten der SVP wählte, welche die Erfordernisse der Konkordanz respektieren : Wir anerkennen euer Recht zur Regierungsbeteiligung, aber nur zu diesen Bedingungen.

In den letzten Jahren war das Konkordanzprinzip ständigen Angriffen seitens eines Teils der Intelligenzija und gewisser Wirtschaftskreise ausgesetzt. Es heisst, diese Regierungsform sei der modernen Welt mit ihrer Notwendigkeit, rasch auf ein wechselndes sozio-ökonomisches Umfeld zu reagieren, nicht mehr angemessen. Das Konkordanzsystem beraube das Volk der Freiheit, Entscheide über klare politische Alternativen zu treffen, wie sie parlamentarische Demokratien mit ihren Mehrheitswechseln ermöglichten. Diese Analyse entspricht jedoch einer abstrakten Rationalität, welche die Funktionsregeln der Wirtschaft und jene der öffentlichen Sphäre vermischt. Die genauere Beobachtung der auf dem Konkurrenzprinzip beruhenden Demokratien zeigt, dass die an der Macht befindlichen Mehrheiten auch dort die Wünsche der Opposition und der öffentlichen Meinung berücksichtigen. Denn die Lösung der Probleme, mit denen die Gegenwartsgesellschaften konfrontiert sind, verlangt eine breitere Zustimmung, als sie eine über Wahlen errungene Mehrheit ermöglicht. Das bezeugen vor allem die diversen Grossen Koalitionen und politischen Rundtischgespräche zwischen den Sozialpartnern in den parlamentarischen Demokratien, die uns umgeben. Weit davon entfernt, eine archaische Regierungsform darzustellen, erweist sich das Konkordanzprinzip als erstaunlich modern. Dies ist ein Grund mehr dafür, seinen Sinn zu bewahren und es nicht zu einem rein arithmetischen Kalkül verkommen zu lassen, das seinen Gegnern erlauben würde, es von innen auszuhöhlen. Im Übrigen ist es paradox, dass die SVP, eine Partei, die vorgibt, die einzige Vertreterin der helvetischen Werte zu sein, heute versucht, uns eine politische Kultur aufzudrängen, die der Konkordanz radikal fremd ist,  während die Konkordanz direkt der kulturellen und politischen Vielfalt unseres Landes entspricht.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 26-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet: Prof. Dr. Gabrielle Antille Gaillard, Ökonomin, Universität Genf; Prof. Dr. Klaus Armingeon, Politikwissenschafter, Universität Bern; Prof. Dr. Mathias Binswanger, Volkswirtschafter, Fachhochschule Solothurn Nordwestschweiz; Prof. Dr. Giuliano Bonoli, Politikwissenschafter, IDHEAP, Chavannes-près-Renens; Prof. Beat Bürgenmeier, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. Sandra Lavenex, Politikwissenschaftlerin, Universität Luzern; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Dr. André Mach, Politikwissenschafter, Universität Lausanne; Dr. Carlo Malaguerra, Muri b. Bern; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Jacques Pasquier-Dorthe, Betriebswissenschafter, Universität Freiburg; Prof. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. Dr. Johannes Rüegg-Stürm, Betriebswirtschafter, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Franz Schultheis, Soziologe, Universität Genf; Prof. em. Dr. Peter Tschopp, Volkswirt, Universität Genf; Prof. em. Dr. Eberhard Ulich, Arbeits- und Organisationspsychologie, ETH Zürich; Prof. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.

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