Selbstbestimmung der Arbeit im Rentenalter

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Von Kontrapunkt* vom 9. März 2008

Welches AHV-Rentenalter ist das „richtige“? Meist wird darauf mit einem Schema geantwortet: 65, 67 oder „flexibel“. Jedenfalls müsse es für alle gleich sein. Das verlange die Rechtsgleichheit. Diese will allerdings nicht nur Gleiches gleich, sondern auch Ungleiches ungleich behandeln. Unterschiede in Gesundheit, Einkommen und Berufskarriere sollen zu unterschiedlichen Lösungen führen (Flexibilisierung). Nur: Wer bestimmt, welche Unterschiede eine Ungleichbehandlung rechtfertigen? Um das Schema gerecht zu applizieren, werden objektive Kriterien gesucht.

Eine faire Lösung müsste demgegenüber von zwei Grundsätzen ausgehen: Erstens von der Freiheit des Einzelnen, das Ende seiner Lebensarbeitszeit selbst zu bestimmen, zweitens von der Verantwortung aller, einen Beitrag zum Sozialprodukt zu leisten, solange sie dies können. Das „richtige“ Rentenalter ist also in der Spannung zwischen Selbstbestimmung und Gleichbehandlung zu suchen. Wie ist in diesem Spannungsfeld zu entscheiden? Wie ist dabei der sozialen Gerechtigkeit einerseits, der Finanzierbarkeit anderseits Rechnung zu tragen?

Eine objektive Antwort ist nicht möglich, denn diese würde von Einflussfaktoren der Entwicklung abhängen, die nicht vorausgesagt werden können. Das zeigt z.B. das Modell des Laboratoire d’économie appliquée (Lea) der Faculté des Sciences économiques et sociales der Universität Genf[1]. Wichtige Faktoren sind die effektive und voraussichtliche Grösse der aktiven Bevölkerung oder die Zahl der Immigranten und Emigranten. Am wichtigsten sind aber die demographischen und ökonomischen Faktoren: Wenn sich die Lebenserwartung oder das Wirtschaftswachstum gegenüber heutigen Annahmen verschieben, verändern sich die Ergebnisse am meisten. Während der Ertrag der AHV z.B. bei einer Annahme von 0,5% jährlichem Wirtschaftswachstum ab 2023 abnehmen wird, ergibt sich bei einer Annahme von 1,5% Wirtschaftswachstum im Jahr 2030 ein Überschuss von ca. 3,2 Mia. Franken.

Wir entscheiden also in Ungewissheit. Wir können kein System schaffen, das in 20 Jahren gerecht sein wird. Wir können nur ein System entwickeln, das die zu erwartende Ungerechtigkeit erträglich macht und möglichst gerecht verteilt. Wir wissen nämlich schon heute, dass das Schema eines fixen Rentenalters und einer festen Rentensumme nicht bedürfnisgerecht ist. Statt das heutige Schema finanzierbar zu machen, sollten wir eine flexiblere Lösung suchen, welche die jeweils verfügbaren finanziellen Mittel optimaler verwendet.

 

Auszugehen ist von einem Trend zur Verkürzung der Lebensarbeitszeit. Diese reduziert sich an beiden Enden, zunächst ausbildungsbedingt auf die Zeit nach einem durchschnittlichen Alter von 25 Jahren, sodann durch den Trend auf Frühpensionierung im Alter von 60 Jahren. Daraus ergibt sich eine Zeitspanne von 35 Jahren, in welcher bis zu 25 Rentenjahre finanziert werden müssen. Aus diesen statistischen Daten wird meist auf die bekannte (und hier unbestrittene) Finanzierungsproblematik geschlossen. Entweder müssen wir die Lebensarbeitszeit verlängern, den Beitragssatz erhöhen oder die Renten kürzen, heisst es dann. Vorausgesetzt bleibt dabei immer, dass es eine Einheitslösung sein muss, die für alle gleich ist. Die Rechtsgleichheit fordert allerdings hier nicht Gleichbehandlung, sondern Differenzierung. Dies ist eine Folge der unterschiedlichen Arbeitskarrieren in der heutigen Wirtschaft. Offene, angepasste Lösungen sind notwendig, weil die verschiedenen Berufe die Gesundheit und den Alterungsprozess in unterschiedlicher Weise beeinflussen. Ferner sind die Menschen je nach individueller Konstitution länger oder kürzer arbeitsfähig.

Das heutige, schematische Pensionierungsalter ist daher längst nicht mehr eine gerechte Antwort auf die heutigen Lebensverhältnisse:

  • Hinsichtlich der Lebenserwartung zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den Einkommensklassen: Menschen, die zu den 25% mit den höchsten Einkommen gehören, leben in der Schweiz im Durchschnitt rund sieben Jahre länger als die 25% mit den niedrigsten Einkommen, beziehen also auch entsprechend länger Rente.
  • Der Anteil der Frührentnerinnen und -rentner stieg in den letzten 10 Jahren von 30 auf 40% an, andererseits arbeiten rund 25% der Menschen über das gesetzliche Rentenalter hinaus.
  • Der Anteil der Frühpensionierungen steigt systematisch mit dem Einkommen, von 10 % im untersten bis zu 54 % im obersten Viertel.
  • Frühpensionierungen werden zum grossen Teil von den Unternehmen eingeleitet und erfolgen in rund einem Drittel der Fälle unfreiwillig.

Untere Einkommensschichten brauchen die Frühpensionierung also am meisten, können sie sich aber am wenigsten leisten. Das Bedürfnis nach Pensionierung und die Möglichkeiten zur Pensionierung decken sich somit nicht. Verschiedene Lebensläufe und Einkommensklassen rufen nach unterschiedlichen Lösungen. Die Pensionierungsregelung muss daher nicht nur flexibel sein, sondern offen für die autonome Entscheidung der Betroffenen. Jede und jeder muss selbst über die eigene Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft entscheiden können.

Vor allem über die Leistungsfähigkeit älterer Menschen in der Wirtschaft bestehen aber gewichtige Vorurteile, welche einer angemessenen Lösung im Wege stehen. Diese Vorurteile gilt es zu korrigieren:

Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen Folgendes: Die altersbedingten Leistungsdefizite älterer Menschen (Seh- und Hörvermögen, Körperkraft, Schnelligkeit) werden durch bessere Arbeitsstrategien (z.B. Fehlervermeidung aufgrund von Erfahrung) kompensiert, sodass Unterschiede in der eigentlichen Arbeitsleistung bis zum Pensionierungsalter keineswegs generell nachgewiesen werden können. Spezifischen Leistungsnachteilen stehen ausserdem Leistungsvorteile (z.B. Erfahrung, Loyalität und Einsatzbereitschaft, persönliche Netzwerke) gegenüber.

Die Annahme, dass Ältere generell weniger leisten können, ist somit als Vorurteil zu betrachten, das eine eigentliche „Altersdiskriminierung“ darstellt. Die Leistungsfähigkeit älterer Menschen kann durch Massnahmen der Gesundheitsförderung und Weiterbildung gefördert und erhalten werden. Durch geeignete Arbeitsgestaltung ist zu vermeiden, dass Arbeit krank macht und zu vorzeitigem Altern beiträgt.

Die Weiterbeschäftigung älterer Menschen kann durch wirtschaftliche Anreize (wie steuerliche Entlastung älterer Arbeitnehmender, steuerliche Entlastung von Unternehmen, die ältere Menschen beschäftigen, oder Auszeichnung sozialverantwortlich handelnder Unternehmen mit einem „Sozial-Label“) gefördert werden. Anderseits kann von jenen, welche länger arbeiten, auch erwartet werden, dass sie weiterhin einen – wenn auch herabgesetzten – Beitrag an die Finanzierung der Altersversicherung leisten und damit einen Teil der Mehrkosten der Autonomie-Lösung decken. Die Umverteilung, welche dadurch entsteht, lässt sich rechtfertigen, weil sie die Nachteile jener kompensiert, welche ihre Leistungskraft früher verbrauchen mussten.

Welches ist somit das richtige Pensionierungsalter? Jenes, welches alternde Menschen selbst bestimmen, indem sie im Rahmen rechtlich bestimmter Anreize das Ende ihres einkommenswirksamen Beitrags zum Sozialprodukt autonom festlegen.


[1] Vgl. Gabrielle Antille, Pascal Candolfi, Jean-Paul Chaze, Yves Flückiger, „Un modèle de prévision des cotisations et des prestations de l’assurance vieillesse“ Info Social No 9 Oktober 2003, Bundesamt für Statistik.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 26-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet: Prof. Beat Bürgenmeier, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, Zent-rum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.

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