Börse, Geldsystem und Kapitalismus – wie lassen sie sich zivilisieren?

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Volkshochschule Zürich, Ringvorlesung „Dialektik der Börse“, 8. November 2012

Referat, gehalten im Rahmen der Ringvorlesung „Dialektik der Börse“ der Volkshochschule Zürich am 8. November 2012 an der Universität Zürich

1.      Einführung: Wo ansetzen – bei den „Spekulanten“, beim „System“ oder beim „Kapitalismus“?

Wie kaum je in den vergangenen Jahrzehnten hat die aktuelle Krise, die als Hypotheken- und Bankenkrise in Amerika begann und inzwischen vor allem in Europa als Staats­schulden- und Sozialkrise fortwuchert, frühere Selbstverständlichkeiten des Wirtschafts­lebens erschüttert. Ralf Dahrendorf, der vor drei Jahren verstorbene senkrechte Liberale (und langjährige Rektor der London School of Economics), schrieb noch kurz vor seinem 80. Geburtstag  in einem viel beachteten Essay, der unter dem Titel „Der fatale Schritt zum Pumpkapitalismus“ am 30. April 2009 auch im Tages-Anzeiger erschienen ist:

„‘Es‘ begann als Finanzkrise, wuchs sich dann zur Wirtschaftskrise aus und wird mittler­weile von vielen als tiefergehende soziale, vielleicht auch politische Wendemarke gesehen. (…) Die hier verfochtene These ist, dass wir einen tiefgreifenden Mentalitäts­wandel erlebt haben und dass jetzt, in Reaktion auf die Krise, wohl ein neuerlicher Wandel bevorsteht.“

Den Kern des krisenhaften Geschehens sah er also in „Mentalitäten“, d.h. in „vorherrschen­den Einstellungen zu Wirtschaft und Gesellschaft.“ Bezogen auf das Generalthema unseres Vortragszyklus steht aus dieser Sicht die Spekulations­mentalität im Brennpunkt.  Ist sie die Wurzel aller Übel hinter der Krise, wie manche denken?

Vor Ihnen steht ein Wirtschaftsethiker, und dieser Sorte von Leuten unterstellt man gemeinhin, dass sie vornehmlich individualethisch moralisierend an die Probleme des Wirtschaftslebens herangehen. Dem ist aber nicht so. Moderne Wirtschaftsethik thematisiert ebenso sehr die institutionellen Gegebenheiten des unpersönlich funktionierenden Wirtschaftssystems und darüber hinaus der umfassenderen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung. Entscheidend ist in aller Regel die Wechselwirkung zwischen Wirtschaftssystem, politischer Ordnung und dominanten individuellen Mentalitäten. Was an einem für kapitalistische Marktwirtschaften so zentralen Ort wie der Börse abgeht, kann also erst voll verstanden und beurteilt werden, wenn diese drei ineinander verzahnten Problemebenen systematisch unterschieden und in mehrschichtiges Denken einbezogen werden. Damit die Zusammen­hänge nicht allzu umfassend werden, will ich auf jeder Ebene auf einen mir zentral erscheinenden Faktor fokussieren: Das sind auf der Individualebene die schon erwähnte Spekulations­mentalität, auf der Ebene des etablierten Wirtschafts­systems das Geldsystem und auf der Ebene der umfassenden Gesellschaftsordnung das etablierte Eigentumsrecht. Es versteht sich, dass ich aus Zeitgründen manches nicht voll ausführen, sondern nur kurz ansprechen kann. Ich gehe den drei Ebenen oder Stichworten in der genannten Reihenfolge nach.

2.      Mentalitätsebene: Ist Spekulation moralisch verwerflich?

Definieren wir zuerst den Begriff der (wirtschaftlichen) Spekulation. Er bezeichnet den Versuch, durch den Kauf und Verkauf irgendwelcher „Werte“ (Güter mit Marktpreisen oder „Wertpapiere“) intertemporale Preisveränderungen (grob: zwischen heute und morgen) gewinnorientiert auszunutzen.  Insofern enthält jede zukunfts­orientierte Wirtschaftstätigkeit, etwa die unternehmerische Investition in ein voraussichtlich wachsendes Geschäftsfeld, ein spekulatives Moment. Gegen diese „gewöhnliche“ Spekulation ist wohl nichts einzuwenden. „Rein“ spekulative Geschäfte verzichten dagegen auf den lästigen, Zeit und Arbeit beanspruchenden Umweg über die realwirt­schaft­liche Erstellung von nützlichen und daher am Markt gefragten Produkten oder Dienstleistungen (Karl Marx: G à W à G‘) und versuchen unmittelbar durch Finanzgeschäfte  schnellen Gewinn zu erzielen (aus Geld mehr Geld machen: G à G‘). Das geschieht vorwiegend an (Wertpapier-)Börsen  – spezifisch in Form von sog. Termingeschäften an Terminbörsen.  Transaktionen kommen hier logischerweise nur zustande, wenn Käufer und Verkäufer unterschiedliche Zukunftserwartungen haben: Die einen rechnen mit steigenden Preisen und kaufen daher zu heute vermeintlich günstigen Preisen auf Termin; die andern rechnen mit sinkenden Preisen und verkaufen deshalb dieselben „Werte“ zu heute als noch gut beurteilten Preisen, aber liefern sie erst später zum vereinbarten Termin.  Auch dagegen ist im Prinzip nichts einzuwenden: Terminmärkte sind insofern nützlich, als jeder Spekulant gegen Entgelt (nämlich sein erworbenes Recht auf Gewinnaneignung) wirtschaftliche Risiken übernimmt und seinen Geschäftspartnern gegen Entschädigung ein Stück (Kalkulations-)Sicherheit bietet. Je höher die Gewinnchance des Spekulanten, umso grösser auch sein Verlustrisiko.

Soweit die Finanzmärkte solcher Risikoübernahme dienen und mit ihr der Risiko­entlastung oder „Versicherung“ von Wirtschaftsakteuren, die auf fest kalkulierbare Kosten und Erträge angewiesen sind – beispielsweise Landwirte –, kann also durchaus von volkswirtschaftlich nützlicher oder zumindest unproblematischer Spekulation gesprochen werden.  Problematisch wird Spekulation jedoch immer dann, wenn sie nicht mehr nur die beteiligten Partner des jeweiligen Termingeschäfts (i.w.S.) betrifft, sondern nachteilige Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte hat, die sich dagegen nicht wehren können.  So ist es beispielsweise für jeden Menschen, der auch nur ein bisschen wirtschaftsethisch sensibilisiert ist, offenkundig fragwürdig bis verwerflich, wenn Spekulation mit Rohstoffen und Lebensmitteln  auf die realen Warenpreise durch­schlägt, indem sie preistreibend wirkt oder die Volatilität, also die Preisschwankungen dieser Agrarprodukte, verstärkt und so die Existenzlage armer Menschen – sei es als Lebensmittelkäufer oder als Kleinbauern – verschlechtert, ja u.U. sogar den Hunger auf der Welt vergrössert. Nur: Ist dies wirklich der Fall? Man muss da vorsichtig sein, denn es ist empirisch nicht sehr eindeutig, ob und wie sehr Spekulation an den Rohstoff-Terminbörsen, an denen ja keine realen Waren umgeschlagen werden, auf die realen Warenbörsen durchschlagen. Das ist weniger ein Forschungsdefizit als das Wesen der Sache, denn wäre der Wirkungszusammenhang eindeutig, so würde ja die für die Spekulation „nötige“ Ungewissheit über die zukünftige Preisentwicklung entfallen. So lässt sich nur feststellen, dass massive Spekulation tendenziell die ohnehin vorhandenen Preistrends der unmittelbar realwirtschaftlichen Faktoren (wie z.B. Ernte- und Nachfrageschwankungen) verstärkt, bis hin zu höchst volatilen Spekulations­blasen.

Um ein anderes Problembeispiel zu nehmen: Wird von finanzmächtigen Akteuren, den selbsternannten „Masters of the Universe“, gegen die Währungeines ganzen Landes (oder gar Staatenverbunds wie der EU) spekuliert, so kann dies die Kreditkosten oder sogar den Kreditzugang dieses Landes als solchen gefährden und schwere Wirtschafts­krisen erzeugen. Das zeigen die sog. „Asienkrise“ 1997/97, die Argentinienkrise 2001 und jetzt die „Eurokrise“ in ihren diversen Facetten von Irland über Griechenland bis Spanien). Dabei wird, unterstützt von nicht ganz unabhängigen Ratingagenturen, regelmässig die Marktmacht von Finanzakteuren zur Privatisierung der Gewinne und zur Sozialisierung der Verluste aus Spekulation (in Form der Abwälzung auf die „einfachen Bürger“ und/oder die Staaten) genutzt, was ich wohl in diesen Zeiten nicht speziell auszuführen brauche.

Völlig zu Recht wendet sich der Unmut aller vernünftigen Beobachter  – oder auch der vielleicht weniger vernünftig reagierenden „Wutbürger“ – gegen jene Auswüchse einer schamlosen Spekulationsmentalität, die ohne Rücksicht auf lebenspraktisch proble­matische Folgen ihre Finanzgeschäfte nur noch an der Maximierung ihres Gewinns ausrichten.  Dagegen ist aus wirtschaftsethischer Sicht zweierlei zu fordern:

—  Zum einen ist die Selbstbegrenzung verantwortlicher Wirtschaftsakteure in ihrem Gewinnstreben geboten, indem die unantastbare Würde und die moralischen Rechten (d.h. legitimen Ansprüchen) aller Betroffenen respektiert werden. Das heisst: ihnen den Vorrang vor dem eigenen Vorteil einzuräumen! In diesem Sinne verzichten – nach anhaltender öffentlicher Kritik – immer mehr Banken darauf, ihren Kunden Finanz­produkte im Bereich der Agrarrohstoffspekulation anzubieten, auch wenn solche Produkte gesetzlich (noch) nicht verboten sind, sondern vorerst aus moralisch fragwürdigen Geschäften „nur“ ein (weiterer) Reputationsschaden droht.

—   Zum andern aber sind die allzu verführerischen spekulativen Anreize ordnungs­politisch einzuschränken und richtigzustellen, quasi als institutionelle „Rückenstützen“ der moralisch gebotenen Selbstbegrenzung des einzelwirtschaftlichen Gewinnstrebens. Hier kommen wir nun zu den beiden eingangs genannten weiteren Problem­ebenen. So kann beispielsweise mit einer Finanztransaktionssteuer, wie sie jetzt einige EU-Länder (namentlich Frankreich und Deutschland) beschlossen haben, die Geschwindigkeit und das Volumen der kurzfristigen Spekulation (sog. Hochfrequenzhandel) gedämpft werden. Zudem werden damit die Spekulanten ein bisschen an der Finanzierung der sozialen Folgekosten, die bei der Allgemeinheit anfallen, beteiligt. Warum sollen Lenkungsabgaben, die der Sozial- und Umweltverträglichkeit von Produkten dienen (indem sie z.B. Alkohol und Zigaretten oder umweltbelastende Autos verteuern und umgekehrt umweltschonende Autos steuerlich bevorzugen), nicht auch auf die sog. „Finanzprodukte“ ausgedehnt werden? Darüber hinaus wird über kurz oder lang die Finanzmarktpolitik und -aufsicht unmittelbar schädliche Finanzprodukte schlicht und einfach verbieten müssen, soweit die Finanzmarktakteure keine kollektive Selbst­beschränkung, etwa in Form von Standesregeln auf der Basis einer professionellen Ethik der Finanzprofis, schaffen.

Ich möchte hier besonders auch das Volumen der ganzen Finanzmarkttransaktionen  kurz in den Blick nehmen. Es ist in den letzten zwei, drei Jahrzehnten je nach Schätzung etwa fünf- bis siebenmal schneller als das (Welt-)Sozialprodukt gewachsen. Offenbar hängt die wachsende Dominanz der Finanzmärkte über Realwirtschaft und Politik nicht zuletzt davon ab, dass heute schlicht zu viel renditesuchendes Geld oder Kapital im Umlauf ist. Das erzeugt wie immer in der Marktwirtschaft Inflation – spezifischer: sog. asset (price) inflation von allen als Kapitalanlagen geeigneten „Werten“ (z.B. Aktien, Immobilien, Boden, Rohstoffe, Kunstwerke…) und allen auf solchen „Basiswerten“ beruhenden Derivaten. Übersehen wird dabei oft, dass auch der Börsenwert von Derivaten x-ter Stufe oder „strukturierter Finanzprodukte“, die bildlich gesprochen nur noch mit einem sehr langen und dünnen Faden an realwirtschaftliche „Wertschöpfung“ gebunden sind, letztlichauf der Spekulation auf steigende realwirtschaftliche Erträge beruht. Werden diese Erwartungen enttäuscht, so brechen die inflationierten Bewertungen oder Börsenpreise schlagartig zusammen. Was bis zu diesem Moment als „Kapitalanlage“ galt, erweist sich dann als ziemlich virtuelles oder fiktives „Luftgeld“.  Am besten würde die endlose Aufblähung des renditesuchenden Finanzvolumens als solche eingeschränkt, um die offenbar zunehmend krisenhafte Volatilität der Finanz­märkte und der Börsen ursächlich zu dämpfen (statt nur ihre symptomatischen Folgen zu bekämpfen).

Wie kommt dieses wenig solide „Luftgeld“ eigentlich in die Welt? An dieser Stelle gilt es etwas anzusprechen, was in der Fachökonomie noch weitgehend ein blinder Fleck zu sein scheint. Es liegt – das ist meine These – ein fundamentaler Fehler des heute existierenden Geldsystems vor!

3.      Systemebene: Ist das Geldsystem falsch konstruiert?

Die zentrale Bedeutung des Geldsystems für die gegenwärtige Finanz- und Schulden­krise wird noch weitgehend übersehen. Man tut weitherum so, als ob die Haupt­verursacher des aufgeblähten Finanzvolumens einfach die Politiker wären, die aus mangelnder Budgetdisziplin ständig die Staatsschulden aufblähen und zu ihrer Finanzierung ihre Notenbanken „Geld drucken“ lassen. Ausgeblendet wird dabei die Tatsache, dass der weitaus grösste Teil des weltweit zirkulierenden und rendite­suchenden Geldvolumens gar nicht von den staatlichen Notenbanken in Umlauf gebracht wird, sondern von privaten Geschäftsbanken – Fachleute schätzen 85-90%, zumindest bis 2011 vor der Reaktion der Zentralbanken auf die Schuldenkrise. Dies eben nicht in Form von Münzen und Banknoten („Papiergeld“), sondern in Form von Buchgeld. Es handelt sich dabei um reines Giralgeld, das durch Buchungsvorgänge entsteht: Indem eine Bank einem Kunden einen Kredit einräumt, verlängert sie schlicht ihre Bilanz. Warum haben die meisten Banken diese Möglichkeit bis an die Grenzen der sehr bescheidenen Vorschriften bezüglich Mindestreserven und Eigenkapital­unterlegung ausgenutzt? Natürlich weil sie für das selbst geschöpfte Giralgeld Zinsen verlangen oder damit (im „Eigenhandel“) spekulieren können! Vor allem deshalb wächst das Finanzvolumen wie erwähnt seit der weitgehenden Deregulierung des Finanzsektors viel rascher (5- bis 7-mal so schnell!) als das Sozialprodukt.

Damit ist beispielsweise das in Art. 99 der schweizerischen Bundesverfassung fest­ge­schriebene Geldmonopol der Nationalbank zur Farce geworden. Dort steht in Absatz 1: „Das Geld- und Währungswesen ist Sache des Bundes; diesem allein steht das Recht zur Ausgabe von Münzen und Banknoten zu.“ Vergessen gegangen ist in dieser Formulierung das heute dominierende Buchgeld! Die Zentralbanken, die eigentlich für einen stabil und inflationsfrei funktionierenden Geldkreislauf als pekuniäre Infrastruktur der Volkswirtschaft sorgen sollten, haben mit dem hohen, von den Banken bestimmten Buchgeldvolumen fortschreitend die Kontrolle über die zirkulierende Geldmenge und damit die Möglichkeit der Geldmengensteuerung verloren.

Eine Banklizenz stellt also das erstaunliche Privileg zur privaten Geldschöpfung durch Kreditschöpfung dar. Dieses Privileg höhlt die für eine stabile Währung erforderliche Geldmengenkontrolle durch die gesamtwirtschaftlich verantwortlichen Notenbanken aus und ist als ein eigentlicher Systemfehler des Kapitalismus zu begreifen. Beseitigt werden kann er nur durch den Übergang zu sogenanntem Vollgeld, das zu 100% aus Zentralbankgeld besteht und dessen Menge von der ausgebenden Zentralbank wirksam kontrolliert werden kann. Öffentliche Geldversorgung (durch die Zentralbank) und private Kreditvergabe (durch private Geschäftsbanken) werden sauber getrennt. Die Konten der Bürger und Firmen können zwar in Form einer Finanzdienstleistung weiterhin (treuhänderisch) von Geschäftsbanken verwaltet werden, aber die Guthaben der Kunden werden ausserhalb der Bankbilanz geführt und sind zu 100% von der Zentralbank gewährleistet. Damit entfallen auf einen Schlag die Gefahren der „Vertrauenskrise“ gegenüber den Banken, nämlich einerseits der tendenzielle Zusammenbruch der Interbankenkredite und andererseits der drohende „Bankrun“ der Kunden, die ihre Guthaben abheben wollen, da sie ggf. in die Konkursmasse einer zusammenbrechenden Bank fallen würden.

Nicht zuletzt würde die Nationalbank die nach Kriterien des volkswirtschaftlichen Gesamtinteresses (Liquidität des Zahlungs­verkehrs, Preisstabilität, Konjunktur und Wachstum) erforderliche Geldmenge dem Bund, den Kantonen und vielleicht teilweise direkt auch den Kommunen schuldfrei und zinslos  zur Verfügung stellen. Der Umweg über die Finanzmärkte und deren Renditeansprüche würde sich erübrigen. Hingegen müssten die privaten Banken in Zukunft ihre geschäftsnotwendigen Geldmittel voll mit Vollgeld in Form von Krediten der Zentralbank abdecken und sie verzinsen, wobei die Zentralbank die Leitzinsen wie schon bisher nach gesamtwirtschaftlichen Kriterien steuern kann. So könnte die übertriebene Aufblähung des Kreditvolumens in Boomzeiten ebenso wie die Kreditklemme in Krisenzeiten viel wirkungsvoller als heute bekämpft werden.

Im Vollgeldsystem käme es mit dem Auslaufen alter Staatsanleihen innerhalb von recht kurzer Zeit zu einer markanten und nachhaltigen Entschuldung der Staaten (in den meisten EU-Ländern etwa zu 60%, in der Schweiz wäre sie sogar zu 100% möglich), und die  Staatshaushalte würden dementsprechend nachhaltig vom Zinsendienst entlastet. Dieser verblüffende neue Weg der Staatsentschuldung wäre viel gerechter als jene mittels gezielter Inflation, mittels Kürzung staatlicher Investitionen und Sozial­leistungen oder mittels Steuer­erhöhungen für die normalen Bürger (sog. Austeritäts­programme). Der Weg der Entschuldung eines Staates über die Vollgeldreform schafft sogar nachhaltig Raum für niedrigere Steuern und/oder einen grösseren Anteil investiver Staatsausgaben und  stärkt damit erst noch die Volkswirt­schaft im inter­nationalen Standortwettbewerb! Ein Teil des jährlich von der Zentralbank neu geschöpften Vollgelds könnte übrigens als „Bürgerdividende“ direkt an alle Bürger ausbezahlt werden zur Stärkung ihrer Kaufkraft und zur Entlastung des Sozialstaats.

Durch die internationale Finanz- und Schuldenkrise ist die Aktualität und Vorzüglich­keit der Vollgeldreform noch einmal sprunghaft gestiegen. Die besondere Absurdität der Krisendynamik besteht ja darin, dass sich zuerst die Finanzwirtschaft mit ihrer Kredit- und Geldschöpfung verspekuliert hat und dann zahllose Banken von den Staaten gerettet werden mussten (sog. Bail-out), dass aber diese rettenden Staaten sich zu diesem Zweck wiederum bei den zu geretteten Banken mit teilweise untragbar hochverzinslichen Staatsanleihen verschulden mussten. Den Gipfel der Unvernunft hat diese unselige Verquickung von Banken und Staatsfinanzen in der Europäischen Union mit ihren fehlkonstruierten Finanzinstitutionen erreicht. So darf einerseits die Europäische Zentralbank (EZB) direkt keinen Staaten, wohl aber den Banken Kredit geben – mit der schon erwähnten Konsequenz, dass sich die Staaten zur Rettung der Banken selbst noch bei den Banken verschulden mussten, und dies unter kräftigem Mitwirken der Ratingagenturen zum Teil zu horrend hohen Zinsen. Umgekehrt darf der Europäische Stabilitäts­mechanismus (ESM) auch in seiner seit gut einem Monat in Kraft getretenen Version nur den Mitglieds­staaten Notkredite und Bürgschaften gewähren, nicht aber direkt den ursächlich notleidenden Geschäftsbanken – was die wiederum absurde Konsequenz hat, dass die nötige Refinanzierung des Bankensystems nur über die gleichzeitige Aufblähung der Staatsschulden möglich ist. Nur so konnte die internationale Banken­krise zur spezifisch europäischen Staatsschuldenkrise mutieren.

Warum diese Fehlkonstruktion der europäischen Geld- und Finanzarchitektur? Nun, man wollte eben seinerzeit den Pelz waschen ohne ihn nass zu machen. Man wollte also den Euro als gemeinsame Währung, war aber in den einzelnen EU-Staaten nicht bereit, als nötige Voraussetzung für ein funktionierendes Geldsystem eine echte Europäische Zentralbank mit vollen geldpolitischen Kompetenzen zu schaffen. Neben nationalen Egoismen spielte wohl auch der neoliberale Argwohn mit, der in starken staatlichen Institutionen stets nur das Problem und nie die Lösung sah. Als Garant dafür, dass alles gut wird, vertraute man lieber der „unsichtbare Hand“ freier Märkte, besonders der deregulierten Finanzmärkte… Auf diesem ideologischen Hintergrund ist es überhaupt nur möglich geworden, dass in den vergangenen dreissig Jahren, also seit Beginn der neoliberalen Politik mit Thatcherismus in GB und Reagonomics in USA, die Finanzmärkte zunehmend die realpolitische Dominanz über eine am Wohl der Bürger orientierte und demokratisch legitimierte Politik erlangen konnten. Am Ende der Fahnenstange stehen Sachzwänge wie das „too big to fail“ – und wohl auch „too big to jail“ –, die dazu führten, dass einerseits unvorstellbare Milliarden- oder Billionensummen zur Rettung der Gläubiger (also der Finanzanleger) bereitgestellt werden, andererseits aber den normalen Bürgern, die weder daran verdient haben noch mitschuldig an den Fehlspekulationen sind, teilweise kaum mehr tragbare Einschränkungen ihrer wirtschaftlichen Lebenslagen zugemutet werden. Man denke an Griechenland. Dort, wo das Geld als Mittel der Existenzsicherung der Bürger oder der Investitionsmittel für die Realwirtschaft am dringendsten benötigt wird, fliesst es keineswegs hin. Mit einer EZB, die den Euro als Vollgeld des gesamten Euroraums schuldfrei herausgeben und auch von den Geschäftsbanken die Vollgeld-Abdeckung ihrer Kreditvergabe verlangen könnte, wäre alles ganz anders…

Ohne dass ich die technischen Einzelheiten der Vollgeldreform hier näher erläutern kann, sei darauf hingewiesen, dass fertig ausgearbeitete und solid durchdachte Konzepte bereit stünden. Die Ursprünge gehen in der Version des sog. „100%-Gelds“ zurück auf amerikanische Ökonomen, die sich nicht ganz zufällig nach dem grossen Börsenkrach von 1929 mit dem Geldsystem zu befassen begannen, namentlich Irving Fisher (100% Money, 1935). Die jüngste Weiterführung zum voll entwickelten Vollgeld-Konzept ist wesentlich vom deutschen Sozialökonomen Joseph Huber (Monetäre Modernisierung, 2010) geleistet worden. Spezifisch für die Schweiz ausgearbeitet ist das Konzept – bis hin zu den nötigen Artikeln in der Bundesverfassung – vonseiten des Vereins „Monetäre Modernisierung“, in dessen wissenschaft­lichem Beirat ich selbst mitwirke. „MoMo“, wie sich der Verein abgekürzt nennt (vgl. Website http://vollgeld.ch), wäre im Prinzip bereit, eine entsprechende Volksinitiative zu lancieren, zögert aber noch, weil sich die Realpolitik ebenso wie Schweizerische Nationalbank noch kaum ernsthaft auf das Thema eingelassen haben. Die zum Teil wirklich verblüffenden Vorzüge des Vollgeld­systems gegenüber dem überholten heutigen „fraktionalen Reservesystem“ mit überschiessender privater Giralgeld­schöpfung sind jedoch so eindeutig, dass sich unsere Nachkommen einst wohl wundern werden über die ideologische Blindheit der gegenwärtig v.a. in Europa betriebenen, weitgehend konzeptlosen Symptombekämpfungspolitik.

Die grundlegende Losung für die Zukunft müsste lauten: Wenn schon Kapitalismus, dann bitte gleich richtig! Zu einem richtig organisierten, nämlich gesellschaftlich legitimen und gemeinwohl­verträglichen Kapitalismus, gehört ein weiterer wichtiger Aspekt, der auf der dritten Ebene in unserem Dreischritt ‚Individuum – System – Gesellschaft‘ ansetzt. Also auf der Ebene der umfassenden Gesellschaftsordnung, und zwar an einem ganz zentralen, aber wiederum heutzutage weitgehend ausgeblendeten Faktor, nämlich der Eigentumsordnung.

4.      Gesellschaftsebene: Ist die kapitalistische Eigentumsordnung mitschuldig an der Krise?

Eigentum ist kostbar und soll vom liberalen Rechtsstaat als unantastbar geschützt werden, denn es macht uns frei und unabhängig – so lautet in etwa das besitzbürgerliche Credo. Wenn dem so ist, gilt es aber für alle und nicht nur für die materiell Bessergestellten. Reale Freiheit darf ja in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht das exklusive Privileg einer Minderheit sein: Wohlverstandene Freiheit ist in einer wahrhaft bürgerlichen Gesellschaft die grösstmögliche gleiche Freiheit aller. Nimmt man den Zusammenhang zwischen unantastbarem Privateigentum und persönlicher Freiheit ernst – und das tue ich –, so folgt daraus das Postulat des Eigentums für alle als Voraussetzung der allgemeinen realen Bürgerfreiheit.

Merkwürdigerweise sehen das just die politischen Parteien, die sich als „bürgerlich“ oder „liberal“ definieren, in der Regel überhaupt nicht so. Der real existierende (Neo-) Liberalismus hat die Idee der allgemeinen Bürgerfreiheit weitgehend auf die der Wirtschaftsfreiheit verkürzt, und das bedeutet unter den Bedingungen einer kapitalistischen Marktwirt­schaft die nahezu „unantastbare“ Kapitalverwertungsfreiheit der Besitzenden. Längst schützt die real existierende „bürgerliche“ Politik lieber die Besitzstände, die Privilegien und die geballte Verfügungsmacht des zunehmend ungleich verteilten Eigentums, statt ihr ureigenes Credo ernst zu nehmen und an der weiteren Entfaltung einer wohlgeordneten Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger zu arbeiten.

So verfügen in der Schweiz mittlerweile die reichsten 3% der Haushalte über gleich viel Vermögen wie die restlichen 97% zusammen. Dem reichsten 1% gehören laut dem Credit Suisse Global Wealth Databook 2010 (also einer aus bürgerlicher Sicht unverdächtigen Quelle) gar 58,9% aller Vermögen. (Die Occupy-Bewegung mit ihrem Spruch „Wir sind die 99%)“ lässt grüssen. Seit dem Siegeszug des neoliberalen Marktradikalismus vor etwa 30 Jahren ist statistisch eindeutig eine sich stetig öffnende Schere zwischen Arm und Reich in fast allen Ländern zu beobachten.

Was hat das mit der Finanz- und Schuldenkrise zu tun? Nun, im Wesentlichen zweierlei:

—   Am einen Pol der sehr ungleichen Wohlstandsverteilung verfügt eine privilegierte Minderheit über riesige Mittel, die sie lebenspraktisch kaum mehr sinnvoll verwenden können, weshalb die Besitzer sie als Finanzanlagen auf den Finanzmärkten investieren. Das überproportionale Wachsen der Finanzwirtschaft gegenüber der Realwirtschaft hat also, samt der schon erwähnten asset price inflation und dem von den Finanzmärkten auf Realwirtschaft und Politik ausgeübten Renditedruck, unmittelbar etwas mit der immer steileren Vermögensverteilung zu tun.

—   Am andern Pol nötigt diese Veränderung der Wohlstandsverteilung den Sozialstaat, immer mehr Menschen, die nichts besitzen und zugleich an fehlendem oder ungenügendem Erwerbseinkommen leiden, zu unterstützen. Das ist der zweite permanente Treiber der wachsenden Staatsverschuldung – auch wenn diese erst jüngst mit der Notwendigkeit der Bankenrettung in manchen Ländern, wie z.B. in Spanien, so richtig explodiert ist.

Auch auf dem Feld der Sozialpolitik reagiert die Politik bisher weitgehend nur mit Symptombekämpfung, indem weniger bei den Verursachern der ganzen fragwürdigen Entwicklung als vielmehr bei den Betroffenen, also den sozial Benachteiligten, „gespart“ wird. Den Ansatz zu einer ursächlichen Problemlösung würde erst eine neue, wahrhaft bürgerliche Eigentumspolitik bieten. Deren Ziel müsste, in den Worten von John Rawls, des amerikanischen Vordenkers des modernen politischen Liberalismus, eine „property-owning democracy“ sein, also eine Demokratie, die auf lauter real freien Bürgern mit Privateigentum beruht. Dem entspräche eine Politik der breiten Eigentumsförderung, vielleicht bis hin zum ebenfalls amerikanischen Vorschlag eines allgemeinen Bürgerkapitals, verstanden als eine allen Bürgerinnen und Bürgern zustehende „Sozialerbschaft“, mit der sie einen fairen Anteil an dem von den früheren Generationen geschaffenen volkswirtschaftlichen Kapitalstock erhalten („Stakeholding“ nach Bruce Ackerman & Anne Alstott, The Stakeholder Society, engl. 1999, dt. 2001). Das wäre einer liberalen Gesellschaft mindestens so angemessen wie die letztlich noch feudal­gesellschaftlichen Privilegien derer, die das Glück haben, in eine wohlhabende Familie hineingeboren zu sein. Es würde Erbschaft wenigstens auf einem bescheidenen Niveau zu einem allgemeinen Bürgerrecht machen, damit zur weiteren Entfaltung einer echten Bürgergesellschaft beitragen und den Sozialstaat ursächlich ein wesentliches Stück entlasten. Und man darf sicher sein, dass die so gestärkten Bürger ihr Eigentum grösstenteils in nachhaltiger Weise in ihre unmittelbare Wohn- und Lebensqualität investieren würden, statt damit auf den aufgeblähten und daher immer volatileren Finanzmärkten zu spekulieren! Die Bürger gehen in aller Regel mit ihrem beschränkt verfügbaren eigenenGeld viel risikobewusster um als Finanzmanager mit fremdemGeld…Wo aber sind die „bürgerlichen“ Parteien, die sich für diese urbürgerliche Idee eines verallgemeinerten Bürgereigentums und eine entsprechende Gesellschaftspolitik engagieren, statt die sehr parteiliche Kapitalverwertungsfreiheit auf deregulierten Finanzmärkten zu verteidigen?

5.      Ausblick: „Zivilisierung“ der Marktwirtschaft

Versuchen wir ein kurzes Fazit. Wir haben drei grundlegende Momente der kapitalistischen (d.h. vorrangig auf Privateigentum am volkswirtschaftlich produktiven Kapital beruhenden) Marktwirtschaft in den kritischen Blick genommen: die Spekulations­mentalität als die kapitalistische Einstellung von gewinnstrebenden Individuen, das Geldsystem als fehlerhaft konstruierte pekuniäre Infrastruktur des marktwirtschaftlichen Systems, und die halb feudal gebliebene Eigentumsordnung als materielle Grundlage einer historisch noch lange nicht voll entfalteten Bürger­gesell­schaft, in der mehr Bürgersinn, mehr reale Bürgerfreiheit auf der Basis breiter Eigentums­streuung („Volkskapitalismus“) und die Vollgeldreform als zentralem Ansatz einer freiheitlich-demokratischen Geld- und Finanzmarktordnung  zum Tragen kämen.

Ich habe versucht, Ihnen aufzuzeigen, welche vielfältigen Ansatzpunkte zu einer ursächlichen Überwindung der gegenwärtigen Banken-, Staatsschulden- und Sozialkrise sich erkennen lassen, wenn man bereit ist, sich von der interessengesteuerten Realpolitik des konzeptlosen Durchwurstelns zu lösen und mit dem nötigen Mut zu Neuem einige wirtschafts- und gesellschaftspolitische Kreativität ins Spiel zu bringen.

Die entscheidende Frage ist letztlich: In welcher Gesellschaft wollen wir denn leben? Das ist zunächst eine Mentalitätsfrage, oder genauer ausgedrückt eine Frage unseres Selbstverständnisses als Bürger im Spannungsfeld zwischen Bourgeois und Citoyen: Wollen wir weiterhin, wie tendenziell in den letzten Jahrzehnten, in einer zunehmen totalen (und bisweilen totalitär wirkenden) Marktgesellschaft leben, in der die marktwirtschaftliche Systemlogik sachzwanghaft die Gestaltungsräume der Politik einengt und sich in der schleichenden Entdemokratisierung und Refeudalisierung der Gesellschaft zeitigt? Oder doch eher in einer Gesellschaft real freier und gleicher Bürger, in deren freiheitlich-demokratische Grundordnung auch die Wirtschaft konsequent eingebettet und so buchstäblich „zivilisiert“ wird? Um diese möglicher­weise epochale Weichen­stellung geht es heute. Von ihr hängt ab, welche Rolle in Zukunft den marktwirtschaftlichen Kräften im Allgemeinen und den Finanzmärkten im Besonderen zukommen soll:

— Im ersten Fall sind mehr oder weniger deregulierte Finanzmärkte o.k., einfach weil in ihnen die „unantastbare“ besitz­bürgerliche Kapital­verwertungs­freiheit voll zur Geltung kommt, egal wie sehr sie zum Privileg einer Minderheit verkommt.

— Im zweiten Fall geht es darum, die heute tendenziell verkehrte zivilisatorische Ordnung zwischen Bürgergesellschaft und Marktwirtschaft wiederherzustellen, indem die kapitalistische Marktwirtschaft wie gesagt buchstäblich zivilisiert wird, also rechtsstaatlich eingebunden in die Grundsätze des Zusammenlebens unter freien und gleichberechtigten Bürgern in einer civil society – nach dem Motto: Freie Bürger kommen vor dem „freien“ Markt!

So öffnet sich der oft gesuchte, aber bisher kaum gefundene „dritte Weg“einer voll entfalteten Bürgergesellschaft mit einer durch sie buchstäblich zivilisierten Marktwirtschaft. Mit dem Leitbild einer zivilisierten Marktwirtschaftlassen wir die veraltete „Systemdebatte“ zwischen Kapitalismus und Sozialismus endlich hinter uns. Oberster Orientierungs­horizont einer guten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wird das Ideal der verallgemeinerten Bürgerfreiheit jenseits ihrer Verkürzung auf puren Wirtschaftsliberalismus einerseits und seiner Pseudoalternative eines ausufernden Sozialetatismus, der den gesellschaftlichen Symptomen des Wirtschaftsliberalismus mit abnehmendem Erfolg, aber steigenden Lasten hinterherrennt.  (Zur Vertiefung darf ich vielleicht auf mein angenehm schmales Buch „Zivilisierte Marktwirtschaft“ verweisen.)

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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