Ist alles nicht wahr – oder ist es schon zu spät? Warum es besser ist, vor dem Klimawandel die Augen nicht zu verschliessen
Autorin/Autor: Thomas Kesselring
Viele Menschen sind noch immer geneigt, den Klima-Alarm nicht ernst zu nehmen. Die ausweichenden Reaktionen lassen jedoch kein Argument erkennen, das vernünftiger Kritik standhielte.
Meldungen zum Klimawandel scheinen die Öffentlichkeit nicht nur wachzurütteln, sondern oft eher einzuschläfern – aus Gründen vielleicht, die Psychoanalytiker als Verdrängung bezeichnen. Von mehreren Hundert kürzlich in der Schweiz befragten Personen hat nur jede zwanzigste gewusst, dass wir, wenn wir die globale Erwärmung auf zwei Grad beschränken wollen, die globalen Treibhausgas-Emissionen innert 40 Jahren um vier Fünftel zurückfahren müssen.
Als die Beobachtungen zur Erderwärmung noch weniger eindeutig waren als heute, schlug der französische Philosoph Michel Serres vor, die Frage, ob der Klimawandel auf menschliche Einwirkung zurückgehe, wie eine Wette zu behandeln: „Halten wir unser Handeln und unsere Eingriffe für unschuldig und gewinnen, dann gewinnen wir dennoch nichts, geht die Geschichte weiter wie bisher; verlieren wir aber, dann verlieren wir alles (…) Und im umgekehrten Fall, in dem wir unsere Verantwortung gewählt hätten: verlieren wir, verlieren wir nichts; gewinnen wir aber, gewinnen wir alles.“
Obwohl man der Frage, wie wir uns zum Klimawandel verhalten wollen, nicht ausweichen kann – nicht Stellung zu nehmen, ist die Strategie des Business as usual –, gibt es eine Reihe typischer Manöver, sich die Frage vom Leibe zu halten:
Der Klimawandel finde gar nicht statt – so die Feststellung der grössten Rechtspartei der Schweiz. In den USA bekämpfen die Republikaner jede aktive Klimapolitik mit der Begründung, sie koste Arbeitsplätze, obwohl die Förderung von Wind- und Solarenergie in Deutschland klar das Gegenteil belegt.
“It’s too late!” behaupten demokratische Wähler in den USA häufig. Immerhin warnt Lester Brown, der Gründer des Worldwatch- und des Earth Policy Instituts in Washington: Nicht in vierzig, sondern in zehn Jahren müsse das Ziel der Emissions-Reduktion erreicht werden. Denn die grossen Eisschilde auf Grönland und in der Westantarktis schmelzen deutlich schneller, als der Weltklimarat prognostiziert hat. Verschwinden sie vollends, so steigt der Meeresspiegel mindestens achtmal höher, als dieser Rat prophezeit. Dadurch würden Küstengebiete überflutet, in denen mehr Menschen leben als gegenwärtig in Europa. Der Himalaya, so Lester Brown weiter, dürfte in den nächsten fünfzig Jahren zwei Drittel seiner Gletscher verlieren, aus denen sich die Lebensadern Pakistans, Nordindiens, Bangladeschs, Chinas und einiger südostasiatischer Länder speisen. Zwei Fünftel aller Menschen leben im Bereich dieser Flüsse. Ihre Verkümmerung zu Rinnsalen, die nach starken Regenfällen über die Ufer treten, wäre für die Landwirtschaft eine Katastrophe. – Die Behauptung, es sei zu spät zum Handeln, erinnert jedoch an den Automobilisten, der sich vor einer absehbaren Kollision weigert, auf die Bremse zu treten.
Hauptproblem: Die Erde ist übervölkert! Das klingt zwar nicht unplausibel: Der tägliche Zuwachs der Weltbevölkerung ist grösser als die Einwohnerzahl des Kantons Genf und der jährliche entspricht fast der Bevölkerung Deutschlands. Sollen wir aber daraus schliessen, die schwarzen Schafe seien die Menschen in Schwarzafrika, weil dort die Geburtenzahlen am höchsten sind? Der ökologische Fussabdruck dieser Menschen beträgt bloss einen Bruchteil desjenigen eines Europäers, und ihre Lebenserwartung ist vielerorts nur etwa halb so hoch wie in Europa. In Asien und Lateinamerika ist die Zahl der Geburten pro Paar in den letzten zwei Jahrzehnten so stark geschrumpft, dass jedes Missionieren zu spät käme. Die Bevölkerung nimmt dort vor allem deswegen noch zu, weil die Zahl der Menschen, die das fruchtbare Alter erreichen, schneller gewachsen ist als die Zahl ihrer Kinder abgenommen hat. Die materiellen Ansprüche – Mobilität, Wohnkomfort, Energienutzung – sind im Übrigen viel schneller explodiert als die Weltbevölkerung. Diese hat sich seit 1950 knapp verdreifacht, die Weltwirtschaft aber verzehnfacht und die Zahl der Autos sogar verzwanzigfacht.
Der Klimawandel ist nicht die einzige Herausforderung! Dieser Hinweis ist trivialerweise richtig, erweist sich aber ebenfalls als Ablenkungsmanöver, sobald man die Herausforderungen nach ihrer Wichtigkeit abstuft. Manche akuten Probleme sind in den Medien kaum präsent: Die schwimmende Plasticinsel im Pazifik z.B., ein ozeanischer Abfallhaufen von der Grösse der USA, oder der Zusammenhang zwischen der Auspowerung von Böden und ökologischen Ressourcen einerseits und dem Zerfall staatlicher Strukturen, etwa in Somalia und Yemen, andererseits. Oder die in vielen Ländern sich abzeichnende Entleerung unterirdischer Wasservorkommen: In China, Nordindien, den USA, Saudiarabien, Mexiko und Spanien wird nicht nur erneuerbare Grundwasservorräte übernutzt, sondern auch fossile unterirdische Wasserreservoirs leergepumpt, die sich nicht wieder füllen. Lester Brown warnt, der Peak Water könnte etwa zeitgleich mit dem Peak Oil eintreten. Die Verknappung von Grundwasser verschärft die Folgen der Gletscherschmelze. Wer wird China und Indien ernähren, falls ihrer Agrarwirtschaft das Wasser ausgeht?
Das ist alles so kompliziert! Dieser Stossseufzer ist zwar nachvollziehbar, doch sollte man nicht vergessen, dass noch keine Generation vor uns Zugang zu soviel Überblicks- und Detailwissen hatte wie die unsere. Es ist nicht verboten, die gegenwärtigen Entwicklungstrends genauer unter die Lupe zu nehmen und nach ihren Prioritäten abzuwägen – erst recht nicht in einer Demokratie, die diesen Namen verdient. Es wäre zu wünschen, dass Schulen und Lehrerbildung die heranwachsende Generation gezielter auf die sich abzeichnenden Veränderungen vorbereiteten.
Wir lernen nur aus Katastrophen! Stimmt bedingt, aber bloss, wenn man das „nur“ streicht. Der Ruf nach entsprechenden Lerngelegenheiten passt schlecht zum Wunsch, von Katastrophen verschont zu bleiben. Oder sind Katastrophen gemeint, die ferne Gesellschaften betreffen? Diese ereignen sich bereits, und zwar immer häufiger: Temperaturen um 7 Grad über dem Jahreszeitmittel, wochenlang, haben letztes Jahr in Russland zu Flächenbränden geführt und zwei Fünftel der Ernte vernichtet. Zeitgleich ging in Pakistan die gesamte Ernte durch Überschwemmungen verloren. Ostdeutschland, Polen, Australien erlebten ebenfalls Flutkatastrophen. Wer soll was lernen, wenn der Klimawandel (wofür vieles spricht) zuerst überwiegend ärmere Länder trifft? Und was haben die USA aus der Überflutung von New Orleans im August 2005 gelernt?
Die grösste Gefahr geht vom Islam aus! Diese Ansicht scheint so weit verbreitet zu sein, dass gewisse Bücher zu diesem Thema Millionenauflagen erreichen, während der Literatur über den Klimawandel die Käufer fehlen. Wie soll man das deuten? Der schon erwähnte Michel Serres hat die globale Gesellschaft mit einer Mannschaft auf einem Meeresdampfer vor dem Aufkommen eines Sturms verglichen: Seeleute „wissen, dass sie ihr Schiff, wenn sie sich untereinander entzweien, zum Untergang verurteilen, bevor sie noch die Oberhand über den inneren Gegner gewinnen.“
Das Schüren religiöser Spannungen auf dem Schiff Europa ist, so gesehen, ein riskantes Unternehmen. Vernünftiger wäre – immer vorausgesetzt, das Schiff soll nicht sinken – ein strategischer Zusammenschluss der monotheistischen Religionen mit dem Ziel, sich gemeinsam auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten. Immerhin sind sie doch alle – metaphorisch oder nicht – von der Einzigartigkeit der Schöpfung überzeugt…
Nicht zufällig gleicht Serres’ Wette derjenigen, in die Blaise Pascaldreihundert Jahre früher die Frage, ob Gott existiere, gekleidet hat: „Wenn Sie gewinnen, gewinnen Sie alles; wenn Sie verlieren, verlieren Sie nichts. Wetten Sie also ohne zu zögern, dass er ist.“ In der Wette Serres’ geht es nicht um Seelenheil und Seelenfrieden als Lohn für ein gottgefälliges Leben, sondern um den Fortbestand unserer Spezies als Lohn für eine Lebensform, die die Ökosysteme und das Weltklima intakt erhält. In beiden Fällen reflektiert die Wette auf Gegebenheiten, die wir nicht selbst geschaffen haben und die wir nicht beliebig manipulieren können. Bildlich gesprochen: die Regeln des Marktes und der Wirtschaft gelten nur für die Seeleute, nicht für den Ozean und den drohenden Orkan. Diese simple Wahrheit unterschlagen wir, wenn wir „Natur“ als beliebig verwert- und ausbeutbare Ressource betrachten.
(Erschienen: 08.08.2011 in: NZZ)
Link zum Artikel NZZ-online: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/ist-alles-nicht-wahr–oder-ist-es-schon-zu-spaet-1.11819099
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