Abschied vom Sonderfall Schweiz – Anmerkungen zur Relevanz der Analyse von Wolfgang Streeck (Gekaufte Zeit. Die vertagte Krise des demokratischen Sozialismus, 2013) für die Schweiz.
Autorin/Autor: Michael Graff
Das „Modell des demokratischen Kapitalismus“ (alternativ: „Rheinischer Kapitalismus“ oder „Neokorporatismus“) war in der Schweiz weit weniger fest etabliert als in den Nachbarländern, daher ist auch die von Streeck diskutierte allmähliche Auflösung weniger dramatisch als anderswo.
Die Koexistenz von Kapitalismus und Demokratie ging und geht immer mit einer strikten Trennung von Politischem (allgemeines Wahlrecht) und Wirtschaftlichem (Privateigentum und Vertragsfreiheit) einher. Dass das Wirtschaftliche der demokratischen Kontrolle entzogen ist, bedarf aber der Legitimation. Die neokorporatistische Variante besteht in Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Eigentumsverhältnisse durch die Lohnabhängigen einerseits und seitens der Unternehmer in Re-Investition der Gewinne und dem Bemühen, Vollbeschäftigung mit existenzsichernden Löhnen zu gewährleisten.
Die Schweizer Variante zur Sicherung von Vollbeschäftigung setzte mehr auf eine ausländische „Reservearmee“, deren Umfang per Ausländerrecht steuerbar war, sowie auf niedrige Zinsen und niedrige Steuern durch den Schweizer Sonderweg, sich als sicherer Hafen für vermögende Anleger und als attraktiver Sitz grosser international operierender Unternehmen zu positionieren. Die unter der britischen Premierministerin Thatcher begonnene Deregulierung der Finanzmärkte („Big Bang“ von 1986) und die sich schnell vertiefende finanzielle Globalisierung hat den Schweizer Sonderweg über Jahrzehnte hinweg zu einem für das Inland vorteilhaften Arrangement gemacht; und da viele der weltweit politische und wirtschaftliche Schlüsselpositionen Besetzenden ebenfalls profitierten, blieb der Druck auf die Schweiz lange gering, auch wenn der Rest der Welt dadurch insgesamt Schaden erlitt.
Das Freizügigkeitsabkommen mit der EU, der allmähliche Abschied vom Bankgeheimnis und die absehbarere − allmähliche − Aufgabe von Steuerprivilegien für ausländische natürliche und juristische Personen macht die Schweiz im Endeffekt den Nachbarn ähnlicher. Dieser Schweizer Transformationsprozess unterscheidet sich aber qualitativ von jenem der Nachbarn. Während diese sich vom Neokorporatismus verabschiedet haben, verabschiedet sich die Schweiz vom Sonderfall, der ihr den Neokorporatismus überflüssig gemacht hatte.
Als Legitimationsgrundlage bleibt nunmehr hier wie dort nur noch die Effizienz des Marktes, oder, wenn diese wie im Verlauf des Verschuldungskrise und deren Platzen 2007 ff. nicht behauptet werden kann, der Verweis auf das historische Scheitern der erstmalig versuchten planwirtschaftlichen Alternative.
Streecks Unterscheidung zwischen „Staatsvolk“ und „Marktvolk“ greift in der Schweiz nur beschränkt. Der „Steuerstaat“ ist bislang nicht vom „Schuldenstaat“ bedrängt worden, da der Schweizer Sonderfall bei der Steuerbasis über die Landesgrenzen hinauszublicken verstand und sich so der Verschuldungsfalle entziehen konnte. Im Unterschied zu den Nachbarn geriet die Schweiz nicht in vergleichbare Abhängigkeit von den internationalen Finanzmärkten, sondern in Anhängigkeit ihres eigenen internationalen Finanzplatzes; damit ist eine Prämisse der hier praktizierten Konkordanz, dem Finanzplatz politisch soweit irgend möglich beizustehen. Der Schweizer Widerstand gegen die „Denationalisierung“ ist aus dieser Perspektive zu verstehen, mit der schwindenden wirtschaftlichen Bedeutung des Sonderweges gerät jener allerdings zu blosser Folklore.
Die Analysen von Streeck sind weniger zugespitzt als die ultimative Handlungsempfehlung: Dass ein Rückbau der Währungsunion einen Rückgewinn von nationaler Souveränität bedeuten und das friedliche Nebeneinander der Staaten fördern würde, wie Streeck annimmt, ist unbewiesen. Dagegen steht das Risiko krisenhafter Verwerfungen und fortschreitender sozialer Desintegration in den Ländern der Euro-Peripherie und allenthalben einer Zuspitzung des wirtschaftlichen Nationalismus im Zuge der Renationalisierung von Währung und Geldpolitik. Und ob die wiedergewonnene Souveränität das „Goldene Zeitalter“ des Kapitalismus (Hobsbawm) wiederaufleben lassen könnte, ist ebenfalls zweifelhaft. Die Staatsfinanzierung über eine einträgliche Inflationssteuer ist zu Recht diskreditiert, und die Steuersätze kennen seit langem nur eine Richtung: nach unten. Um diesen Trend umzukehren bedürfte es globaler Koordination, aber die „Unlogik“ des kollektiven Handelns verhindert, dass es dazu kommen wird − man sehe nur auf das kolossale Scheitern der Anstrengungen, dem Klimawandel durch global koordinierte nationale Politiken entgegenzuwirken.
23. Januar 2014
Eine Übersicht der Beiträge zu Wolfgang Streecks’s Studie „Die gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ finden Sie hier.
Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.