Kommentare Habermas und Glienicker Gruppe zu „Gekaufte Zeit“
Autorin/Autor: Gret Haller
Die Publikation von Wolfgang Streeck hat zu Gegenreaktionen geführt. Deren prominenteste von Jürgen Habermas wird hier kurz zusammengefasst, ergänzt durch einen konkreten Umsetzungsvorschlag der sog. Glienicker Gruppe.
Rückabwicklung oder supranationale Demokratie? (Habermas)
Habermas hat seinen Kommentar zu Streeck unter dem Titel „Demokratie oder Kapitalismus? Vom Elend der nationalstaatlichen Fragmentierung einer kapitalistisch integrierten Weltgesellschaft“ im Sammelband „Im Sog der Technokratie“ (Kleine politische Schriften XII, Suhrkamp 2013) veröffentlicht.
Die Festschreibung der neoliberalen Entwicklung der letzten Jahrzehnte, welche Streeck beschreibt, hält er für wahrscheinlich und verweist auf den britischen Premier, dem die Abwicklung der europäischen Sozialstaaten gar nicht schnell genug gehen könne (S.141). Dazu gebe es nur zwei Alternativen: Rückabwicklung des Euro oder Ausbau der Währungsgemeinschaft zu einer supranationalen Demokratie.
Dem Ansatz Rückabwicklung hält er unter anderem entgegen, dass angesichts der Globalisierung der Nationalstaat in vielen Bereichen gar nicht mehr in der Lage sei, Gegensteuer zu geben (z.B. Bewältigung des dysfunktionalen Bankensystems). Er habe den Eindruck, dass Streeck den „Sperrklinkeneffekt der nicht nur rechtlich geltenden Verfassungsnormen, sondern des faktisch bestehenden demokratischen Komplexes“ unterschätze. Dazu verweist er auf die „Beharrungskräfte der eingewöhnten, in politische Kulturen eingebetteten Institutionen, Regeln und Praktiken“, z.B. die Massenproteste in Lissabon mit der Wirkung der Ausserkraftsetzung des Brüsseler Spardiktates durch das portugiesische Verfassungsgericht (S.146).
Zum anderen Ansatz des Demokratieausbaues konzentriert er sich auf die €-Zone. Ein demokratisch legitimiertes Europa sieht er zunächst in einem solchen Kerneuropa als möglich, mit gemeinsamer politischer Rahmenplanung, Transferzahlungen und wechselseitiger Haftung der Mitgliedstaaten. Institutionell schlägt er die paritätische Beteiligung von Rat und Parlament an der Gesetzgebung vor sowie die Verantwortung der Kommission gegenüber beiden Institutionen.
Zu den Einwänden gegen die Machbarkeit einer politischen Union: Dem Argument heterogener Wirtschaftsstrukturen wird entgegengehalten, dass die Korruptionsanfälligkeit von Verwaltungen nicht mit gewachsener Wirtschaftsstrukturen verwechselt werden dürfe. Das Argument, „unvollendete Nationalstaaten“ (Belgien oder Spanien) seien untauglich nicht zum Aufbau einer politischen Union, wird umgedreht: Auch beim angeblich „Gewachsenen“ der „alten“ Nationalstaaten handle es sich um eine Fiktion. Die soziokulturelle Vielfalt stelle einen gesamteuropäischen Reichtum dar und nicht eine „Schranke, die Europa auf eine kleinstaatliche Form der politischen Integration“ festlege (S.151).
Zu den Einwänden, die Streeck schon an sich gegen die Wünschbarkeit einer politischen Union geltend macht: „… wenn man jede politisch geförderte Modernisierung in den Verdacht einer erzwungenen Homogenisierung rückt, macht man aus Familienähnlichkeiten zwischen Wirtschaftsweisen und Lebensformen einen kommunitaristischen Fetisch.“ (S.152) Dem Argument eines fehlenden europäischen „Volkes“ wird entgegengehalten, dass „… jede Population die Rolle einer <Staatsnation> übernehmen kann, die vor dem Hintergrund einer geteilten politischen Kultur zu einer gemeinsamen politischen Willensbildung fähig ist.“ (S.153) Im übrigen wird dem Modell des Bundesstaates für die politische Union eine klare Absage erteilt und es werden bekannte Alternativen auf der Grundlage doppelter Mehrheiten erwähnt.
Aufbruch in die Euro-Union (Glienicker Gruppe)
Bei der Glienicker Gruppe handelt es sich um elf deutsche Ökonomen, Politologen und Juristen (http://www.glienickergruppe.eu). Der von ihnen verfasste Text nimmt nicht auf Habermas Bezug, kann aber als konkrete Umsetzung der allgemeiner gehaltenen Ausführungen von Habermas gesehen werden, weshalb es sinnvoll ist, hier eine kurze Zusammenfassung beizufügen.
Auch die Glienicker Gruppe setzt bei der €-Zone ein und schlägt dafür einen neuen Euro-Vertrag vor. In „Die Zeit“ vom 17.10.2013 hat sie ihren Vorschlag in folgende vier Punkte gegliedert:
- Bankenunion / Bankenfonds / Bankenaufsicht / Abwicklungsmechanismus
- Kontrollierte Transferelemente (Vermeidung der Bedrohung elementarer Lebenschancen ganzer Bevölkerungen in Mitgliedsstaaten)
- Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch in den Mitgliedstaaten (Einführung von diesbezüglichen Sanktionen, Stichwort Ungarn)
- Bewahrung der öffentlichen Güter, die dem Zusammenhalt dienen, z.B. Flughafensicherheit, Aufnahmefähigkeit für Asylsuchende, Abwehr von Angriffen auf die Währungsunion durch Spekulation (Unionskompetenzen beschränkt auf den Fall der Überforderung des Mitgliedstaates)
Im institutionellen Bereich wird eine handlungsfähige Wirtschaftsregierung vorgeschlagen. Die liberale EP-Abgeordnete Sylvie Goulard (mit Mario Monti Herausgeberin von „De la démocratie en Europe“, Flammarion 2012), welche dem Vorschlag positiv gegenübersteht, möchte aber den Begriff „Wirtschaftsregierung“ vermeiden, da er insbesondere in Frankreich nicht demokratisch konnotiert sei („Die Zeit“ vom 7.11.2013). Die politische Kontrolle würde einem Parlament obliegen, bestehend aus den EP-Abgeordneten der €-Ländern und/oder Abgeordneten der nationalen Parlamente dieser Länder. Die Mitglieder der Glienicker-Gruppe sind unterschiedlicher Meinung darüber, welche dieser beiden Varianten die bessere sei. Ein Budget soll durch einen Beitrag der Mitgliedstaaten in der Höhe von 0,5 Prozent des Bruttoinlandproduktes finanziert werden.
Die Länder, die in absehbarer Zeit den Euro einführen werden, sollen in die Vertragsaushandlung bereits eingebunden werden.
23. Januar 2014
Eine Übersicht der Beiträge zu Wolfgang Streecks’s Studie „Die gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ finden Sie hier.
Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.
1 Kommentar zum "Kommentare Habermas und Glienicker Gruppe zu „Gekaufte Zeit“"
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