Thesen zur Plausibilität der Analyse von Streeck
Autorin/Autor: Peter Habluetzel
1. Streecks Interpretation der gesellschaftlichen Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist für mich ein wichtiges Werk. Mein neues Buch („Die Schweiz seit 1945. Nationaler Wandel im Zeichen der Globalisierung“, das im Mai 2014 beim Zytglogge Verlag in Oberhofen erscheinen soll) setzt sich mit den Thesen Streecks intensiv auseinander.
2. Grossartig finde ich, dass sich ein Soziologe mit einem politökonomischem Ansatz an die historische Analyse und (Re)Konstruktion der kapitalistischen Gesellschaft(en) seit 1945 wagt und in grossen Zügen, aber mit viel empirischen Details den radikalen Transformationsprozess deuten hilft, in dem wir heute stehen.
3. Einverstanden bin ich mit der These, dass der „Demokratische Kapitalismus“ der Nachkriegszeit Ende der 60er und vor allem Mitte der 70er Jahre in eine Krise geriet, die ihn umgestaltet hat und von der er sich nie mehr ganz erholt hat, deren offenen Ausbruch er aber mit Inflation und Schuldenwirtschaft (Staats-Verschuldung, Privat-Verschuldung, Schuldenübernahme durch Zentralbanken) bisher immer wieder hinauszuzögern und zu überbrücken verstand.
4. Ich teile auch die Auffassung, dass wir seit der Finanzkrise 2008 alle weltweit tief in der Scheisse stehen und dass die „Varieties of capitalism“ nur verschiedene Wege waren, wie wir in diese Systemkrise gerieten; aber ich glaube nicht, dass das eine historische Notwendigkeit war und wir kaum eine Chance haben, die Krise durch eine Systemänderung zu meistern.
5. Während bürgerliche Ökonomen und Sozialwissenschaftler sehr erstaunt sind, dass der Kapitalismus immer wieder in Krisen gerät (wenn sie den Kapitalismus und seine Krisen nicht sogar leugnen), gehören für die Marxisten die Krisen quasi zum System. Das hat den Vorteil, dass man entweder Recht hat („wir haben eine echte Krise“, q.e.d.), oder dass es uns besser geht als erwartet. Mit dieser Grundhaltung kann aber eine historische Interpretation m.E. der jeweiligen Situation nicht immer gerecht werden. Die vergangene Zukunft war viel offener, als wir im Nachhinein meinen (und unsere Zukunft ist nicht immer so offen, wie viele hoffen).
6. Ich kann nicht glauben, dass die Entwicklung nach dem Strukturbruch der 70er Jahre notwendigerweise über 30 Jahre hinweg in die heutige Krise laufen musste. Die 80er Jahre boten einige Chancen für alternative Entwicklungen. Erst seit sich der Finanzmarktkapitalismus in den 90er Jahren durchsetzen konnte, war m.E. die Krise absehbar (wenn sie auch fast niemand wirklich kommen sehen wollte).
7. Der „Demokratische Kapitalismus“ der Nachkriegszeit dient Streeck als Vorbild und Referenzperiode, aber die „Glorreichen Dreissig“ waren historisch eine absolute Ausnahme: das lang anhaltende starke Wachstum war nur auf der makabren Basis der Katastrophe von Krise und Weltkrieg möglich, und die Zeiten waren wohl viel autoritärer und weniger demokratisch, als Streeck uns glauben macht: Hegemonie der USA, Kalter Krieg, Neo-Korporatismus mit seiner kulturellen Enge, mangelhafte Emanzipation (z.B. der Frauen, von der Streeck nicht eben viel zu halten scheint; er sähe wohl die Frauen lieber am Herd als im Arbeitsmarkt, wo sie nur die Löhne drücken), Nationalismus und Chauvinismus, oft keine echte Demokratie etc.; dieses Gesellschaftsmodell war weder sozial noch ökologisch nachhaltig. Dass es nicht ewig erfolgreich war, ist nicht nur den „Profitabhängigen“ anzulasten. Der Wandel von Werten, Denk- und Verhaltensweisen seit den späten 60ern zeigt die Defizite dieser Formation. Trotzdem möchte Streeck dorthin zurück!
8. Ich teile Streecks Meinung, dass wir den Finanzmarktkapitalismus überwinden müssen und dass das ein hartes Stück Kampf mit ungewissem Ausgang sein wird. Aber es scheint mir naiv, sich in die Nationalstaaten der Nachkriegsjahrzehnte zurück zu sehnen. Wir können die letzten dreissig Jahre nicht ungeschehen machen, aber gerade in diesen dreissig Jahren gab es auch viele interessante Ansätze, die nicht alle notwendigerweise in die Krise führen mussten. Wenn es gelingen könnte, das unausgeschöpfte Potenzial unserer Entwicklungspfade zu (re)aktivieren (z.B. im Hinblick auf Ökologie inkl. entsprechender Techniken, Care-Ökonomie, Steuerung über Infrastrukturen, Bändigung des (Finanz)Kapitalismus, Genossenschaftswesen, (Berufs)Bildung, internationale Zusammenarbeit etc.), so sollte ein politischer Weg aus der Krise gefunden werden können, der nicht nur rückwärtsgewandt ist.
9. Was die Schweiz betrifft, so scheint mir die Zeit seit den 90er Jahre der grössere Bruch in der historischen Entwicklung zu sein als die von Streeck so stark betonten 70er Jahre. Wir hatten ein extrem starkes, gleichsam zementiertes nationales System, das den Strukturbruch überdauerte und erst jetzt an der neuen Welle der Globalisierung zerbricht. Diese Chance gilt es zu nutzen: Wir erleben eine mehrfache Systemkrise und sind eines der reichsten Länder der Erde, könnten uns also auch interessante Experimente erlauben, ohne gleich hungern zu müssen. Die Schweiz ist ein unvollendetes politisches Projekt der Moderne: Brechen wir aus den engen Systemgrenzen aus und greifen wir die Chance einer Projektidee wieder auf!
23. Januar 2014
Eine Übersicht der Beiträge zu Wolfgang Streecks’s Studie „Die gekaufte Zeit – Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ finden Sie hier.
Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.