Lernen aus der Krise. Auf dem Weg zu einer Verfassung des Kapitalismus
Autorinnen/Autoren: Philippe Mastronardi und Mario von Cranach
Von Kontrapunkt* vom 1. Dezember 2010
Auszug: Inhalt und Einleitung (Pre-print-Version)
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1 Einleitung
1.1 Anlass und Ziel des Dossiers
Lehren aus der Krise dürfen sich nicht auf technische Verbesserungen des bisherigen Modells staatlicher Aufsicht über den privaten Finanzmarkt beschränken. Die Krise offenbart grundlegende Konstruktionsfehler des heutigen Geld- und Finanzsystems. Erforderlich ist ein neues Paradigma für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im Bereich des Finanzmarktes.
Im Mai 2008 veröffentlichte kontrapunkt ein erstes, im März 2009 ein zweites Manifest zur jeweiligen Lage der Weltwirtschaft. Unsere Gründe dafür waren die ernste Besorgnis über die sich entwickelnden Krisen und der Wunsch, auf ihre tieferen Ursachen aufmerksam zu machen. Die späteren Entwicklungen haben unsere Befürchtungen leider zum Teil übertroffen. Die Gefährlichkeit dieser Krisen wurde bald auch in der öffentlichen Diskussion erkannt. Ihre Ursachen, nämlich gewisse grundlegende Systemfehler der heutigen globalen Finanzwirtschaft, werden allerdings z.T. auch heute noch ignoriert.
Die Manifeste mussten ihrer Natur nach kurz gefasst sein, beruhten aber auf weitergehenden Gedanken, die im Kreise von kontrapunkt von den Mitgliedern entwickelt und in einzelnen Aufsätzen formuliert und zum Teil auch publiziert worden waren. Zugleich entstand das Bedürfnis, unsere Vorstellungen zu präzisieren und in einen grösseren Kontext zu stellen; dazu haben wir nun umfassendere Synthesen ausgearbeitet und weitere werden hoffentlich folgen. In diesem Dossier geben wir alle diese Arbeiten nach ihren Inhalten geordnet wieder, um einen zusammenfassenden Überblick zu schaffen. Letzten Endes hoffen wir, damit dem Ziel zu dienen, vergangene Fehlentwicklungen zu korrigieren und zur Entwicklung einer besseren, den Menschen dienenden Wirtschaftsordnung durch Aufklärung beizutragen.
Im Folgenden geben wir eine Zusammenfassung des Inhalts der einzelnen Beiträge, bevor wir diese in den Teilen 2 – 6 in voller Länge wiedergeben.
1.2 Überblick
Im Mai 2008 hat kontrapunkt ein erstes Manifest zu den drei Krisen der Welt verfasst: Finanzmarkt, Klima und Hunger („Eine Wirtschaft, die den Menschen dient, braucht eine ethische Grundlage“; Ziff. 2.1 hiernach). Darin haben wir eingeräumt, dass Gewinn unternehmerisch notwendig ist, aber nicht das Einzige was zählen darf. Wirtschaft ist nicht Selbstzweck; sie dient dem guten Leben und fairen Zusammenleben der Menschen in der freiheitlich-demokratischen Bürgergesellschaft, in der wir leben möchten.
Hauptaussage dieses Manifests war, dass die gegenwärtigen Krisen im Kern moralische Krisen sind. Es gilt, endlich zu erkennen und anzuerkennen, dass jede lebensdienliche Wirtschaft auf ethischen Grundlagen beruht. Im Kleinen soll jeder an seinem Platz dafür angemessene persönliche Verantwortung übernehmen. Im Grossen müssen die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen und Schranken (Anreizstrukturen) richtig gestellt werden. Sonst wird der Markt niemals allen Menschen ein menschenwürdiges Leben und faire Lebenschancen bieten. Wenn Wirtschaft stattdessen zum Kampf aller gegen alle (und zur Selbstbedienung der Stärkeren) verkommt, zerstört sie ihre eigene Legitimations- und Vertrauensbasis und damit die Kooperationsbereitschaft und gesellschaftliche Solidarität der Bürgerinnen und Bürger. Marktwirtschaftlicher Wettbewerb ist kein Ziel, sondern nur ein Mittel, um Wohlstand für alle zu fördern. Dieses setzt Fairness und ein Minimum an sozialer Gerechtigkeit voraus. Eine Wirtschaftskultur, in welcher der Eigennutz die Gerechtigkeit verdrängt, muss immer wieder gefährliche Krisen hervorrufen.
Im einem zweiten Manifest vom März 2009 befassten wir uns vor allem mit den institutionellen Konsequenzen der aktuellen Finanzmarktkrise („Lernen aus der Krise. Notwendig sind jetzt tiefgreifende Reformen“; Ziff. 2.2. hiernach).
Politik und Wirtschaft weigern sich heute mehrheitlich, aus der Krise Grundsätzliches zu lernen. Die aktuellen Programme bleiben auf der Stufe der Interessenpolitik und berühren die Stufe der Ordnungspolitik nicht. Stattdessen ginge es eigentlich um den grundsätzlichen Vorrang der Ordnungspolitik vor der Ökonomie. Es braucht eine klare Vorordnung der demokratischen und rechtsstaatlichen öffentlichen Ordnung (dem Ordre Public) vor der wirtschaftlichen Wertschöpfung (der Nutzenebene).
Die wichtigsten Thesen dieses Manifests sind:
1. Es braucht substantielle Änderungen am System der Finanzwirtschaft.
2. Es braucht Begrenzungen finanzwirtschaftlicher Prozesse und Strukturen.
3. Es braucht eine internationale Marktordnung.
4. Es braucht eine neue Kultur der Politik und der Wirtschaft.
Der dritte Teil des Dossiers ist ethischen Grundlagen einer erfolgreichen globalen Wirtschaft gewidmet. Den Anfang macht eine grundsätzliche Standortbestimmung von PETER ULRICH („Auf der Suche nach Grundsätzen einer vernünftigen Globalisierungspolitik“; Ziff. 3.1 hiernach).
Die Globalisierung ist ein machtvoller Prozess der umfassenden Veränderung im Verhältnis von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Unter den Anforderungen der Globalisierung handelt die Politik ohne Rücksicht auf humane, soziale und ökologische Kosten. Sie sieht sich im internationalen Standortwettbewerb weitgehend entmachtet und muss auf supranationaler Ebene in die Lage versetzt werden, eine lebens- und gesellschaftsdienliche Weltwirtschaftsordnung zu gestalten und durchzusetzen. Der Globalisierungsprozess bedarf daher einer ideologiekritischen Durchleuchtung seiner „Treiber“ und einer entsprechend tief greifenden ethisch-politischen Reorientierung.
Die Fixierung der Politik auf die Effizienz des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs zeigt ein ökonomistisch verkürztes Verständnis von guter Politik. Diese hat es immer auch wesentlich mit Gerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit und Ergebnisgleichheit zu tun. Gute Ordnungspolitik ist zweistufig zu denken: Die Wettbewerbspolitik ist systematisch nachrangig gegenüber einer umfassenderen, an Kriterien des guten Lebens und gerechten Zusammenlebens der Menschen orientierten Vitalpolitik. Entscheidend für die Verwirklichung dieser grundsätzlichen Ordnung dürfte sein, dass ein tragfähiges weltbürgerliches Bewusstsein wächst.
Auf diesem Hintergrund weist PETER ULRICH „Die Finanz- und Wirtschaftskrise als normative Orientierungskrise“ aus (Ziff. 3.2 hiernach).
Es greift zu kurz, wenn derzeit gern von einer „systemischen Krise“ gesprochen wird. Entscheidende Fragen betreffen heute gar nicht die interne „Sachlogik“ und Funktionsweise des marktwirtschaftlichen Systems, sondern kulturelle und gesellschaftliche Voraussetzungen oder Orientierungshorizonte des Wirtschaftens. Eine gründliche Kritik der ökonomischen Rationalität muss bei der ökonomischen Reduktion von Gesellschaft auf Marktwirtschaft ansetzen, welche alle soziale Interaktion als wechselseitigen Vorteilstausch zwischen „homines oeconomici“ begreift. Die normative Logik des Vorteilstausches ist nicht identisch mit der normativen Logik der Zwischenmenschlichkeit. Das Marktprinzip darf nicht an die Stelle des Moralprinzips treten, wonach sich alle Menschen als Personen gleicher Würde und mit gleichen Grundrechten wechselseitig achten und anerkennen sollen.
Als Orientierungsidee für den Weg aus der Krise kann das Leitbild einer voll entfalteten Bürgergesellschaft und einer in sie eingebetteten zivilisierten Marktwirtschaft dienen.
Ein nur schwer zu beseitigendes Hindernis auf diesem Weg ist der herrschende Glaube, die Wirtschaft müsse wachsen. Diesen Glauben kritisiert BEAT BÜRGENMEIER („Ein Kommentar zum Wachstumsbericht 2008 des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco)“, Ziff. 3.3 hiernach).
Die Schweiz, so das Seco, hat ein Problem mit dem schwachen Wachstum ihrer Wirtschaft. Die Lösung liegt nach Ansicht des Wachstumsberichtes in mehr Wachstum dank mehr Markt und weniger Staat. Die Regierung soll mit einem Massnahmenkatalog für „mehr Markt“ die Wirtschaft steuern. Paradoxerweise führt diese neoliberale Haltung aber zu einer Zunahme der Regulierungsdichte. Die Orientierung am Wachstumsglauben verletzt zudem sowohl soziale wie ökologische Grundregeln unseres Zusammenlebens: Sie zeugt von einem Unverständnis gegenüber unserem Gesellschaftsvertrag, nach welchem die Pflichten und Rechte möglichst gleich unter uns verteilt werden sollten. Ebenso wird aus dieser Sicht dem Umweltschutz vorgeworfen, er verursache Kosten und sei wachstumshemmend. Demgegenüber würde eine nachhaltige Entwicklung die drei Dimensionen Wirtschaft, Umwelt und Gesellschaft miteinander verbinden. Eine Umweltpolitik kann nur erfolgreich sein, wenn sie dazu beiträgt, die sozialen Unterschiede zu verringern. Wirtschaftspolitik, Umweltpolitik und Sozialpolitik sind als Ganzheit zu gestalten.
Die ethischen Grundlagen von Politik und Wirtschaft sollen dazu dienen, das Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft zu gestalten. In Teil 4 des Dossiers wird dieses Verhältnis angesprochen.
PETER ULRICH kritisiert zuerst den falschen Gegensatz von „liberal“ und „sozial“ („Bürgerfreiheit und zivilisierte Marktwirtschaft“; Ziff. 4.1 hiernach).
Der Traum einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger ist in der heutigen Politik einem Zwei-Welten-Konzept von „Freiheit oder Gleichheit“ gewichen. Auch der heutige Sozialstaat betreibt weitgehend eine kompensatorische Sozialpolitik, die als blosses Korrektiv den symptomatischen Folgen eines entfesselten Wirtschaftsliberalismus hinterher rennt. Demgegenüber sollte sozialer Fortschritt nicht einfach Ausweitung der materiellen Umverteilung bedeuten, sondern Ausweitung der realen Bürgerfreiheit aller, ein selbstbestimmtes und „anständiges“ Leben führen zu können. Wenn mehr emanzipatorische Gesellschaftspolitik betrieben würde, bräuchte es weniger kompensatorische Sozialpolitik.
Um der grösstmöglichen realen Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger willen kommt es darauf an, die Marktwirtschaft zu zivilisieren, d.h., sie konsequent in voll entfaltete Bürgerrechte einzubinden. Je härter der Wettbewerb wird, umso wichtiger werden zeitgemäss entwickelte Wirtschaftsbürgerrechte. Dazu gehören zum einen Rechte, welche die Optionen wirtschaftlicher Betätigung erweitern, beispielsweise den Zugang zu Bildung und Know-how, zu Kapital und Kredit als Voraussetzungen des freien Unternehmertums für jedermann. Zum andern bedürfen die wirtschaftlichen Betätigungsrechte der Ergänzung um soziale Schutz- und Teilhaberechte (z.B. in der Form eines bedingungslosen Grundeinkommens).
Aus staatsrechtlicher Sicht untersucht PHILIPPE MASTRONARDI die Freiheit, die wir mit unserer marktwirtschaftlichen Ordnung anstreben („Freiheit und Verantwortung im „freien Markt““; Ziff. 4.2 hiernach).
Die Marktwirtschaft ist gewiss jene Wirtschaftsordnung, welche dem Einzelnen die grösste Entfaltungschance gewährt. Die These, der freie Markt bewirke Wohlstand für alle, ist so, wie sie heute vertreten wird, allerdings ein Mythos. ADAM SMITHS „unsichtbare Hand“ ist nämlich kein Marktgesetz, sondern die Hand Gottes, an welche SMITH noch glaubte. Heute muss der Staat jene Voraussetzungen schaffen, unter welchen der Markt Freiheit ermöglicht. Voraussetzung realer Freiheit und Gleichheit ist eine gerechte Sozialordnung und dafür brauchen wir den Staat.
Freiheit ist eine Institution von Staat und Recht: Erst der Staat schafft das Recht auf Freiheit, schützt und begrenzt es. Freiheit ist nur als Ordnung von gegenseitigen Rechten und Pflichten möglich. Eine rechtlose Freiheit wäre blosse Macht und damit nicht zu rechtfertigende Willkür. Das gilt auch für die Freiheit im Markt.
Bei grundsätzlicher Reflexion ist es der Staat, der sich als Freiheit erweist, und der Markt, der sich als Zwang auswirkt. Der Markt schafft nur Freiheit, wenn in der Wirtschaft verantwortungsvoll gehandelt wird. Werden Freiheit und Verantwortung getrennt, wird Freiheit auf ein Privileg der Mächtigen reduziert. Je mehr die Mächtigen aber ihre Freiheit als Privileg ausbeuten, desto eher muss der Staat dafür sorgen, dass Freiheit „verfasst“ wird, d.h. politisch zu Verantwortung und zu Solidarität verpflichtet. Entweder erkennen die Führer der Wirtschaft ihre soziale und ökologische Verantwortung an oder die Politik muss die Wirtschaft dazu zwingen, indem sie ethische Verantwortung in Rechtspflichten umsetzt.
Darin liegt ein Paradoxon im Verhältnis von Markt und Staat: Je ungezügelter die Marktfreiheit, desto stärker das Staatswachstum. Denn dort, wo wir unsere Verantwortung in der Wirtschaft verletzen, muss der Staat an unserer Stelle Verantwortung übernehmen.
Den soeben skizzierten normativen Konzepten der menschlichen Freiheit stehen Machtverhältnisse gegenüber, welche die Realisierung idealer Ziele behindern. Ein Beispiel dafür ist die Macht privater Unternehmungen gegenüber dem Staat, wie HANSPETER KRIESI darlegt („Der politische Einfluss der internationalen Grossunternehmen“; Ziff. 4.3 hiernach).
Über vier Einflusskanäle beeinflussen wirtschaftliche Interessen die Politik von Regierungen in liberalen Demokratien. Es sind dies der Einsatz von Wirtschaftsvertretern im Regierungsapparat, das Lobbying, die Finanzierung von politischen Parteien und von Wahl- und Abstimmungskampagnen sowie die strukturelle Macht dieser Unternehmen.
• Zum einen übernehmen Wirtschaftsvertreter wichtige Funktionen im Regierungsapparat. Nicht nur in den USA, auch in der Schweiz führen individuelle Karrieren Wirtschaftsvertreter in die öffentliche Verwaltung und umgekehrt.
• Ein zweiter Weg zur Beeinflussung der Politik besteht im Lobbying. Der verschärfte Konkurrenzkampf um Konsumenten und Investoren erhöht auch den Druck auf die Politik. In der Schweiz dominieren die Wirtschaftsverbände die vorparlamentarischen Verhandlungsprozesse in der Sozial- und Wirtschaftspolitik und nehmen Einfluss auf die Arbeit des Parlaments. In der jüngeren Vergangenheit haben sich führende Vertreter von grossen Unternehmen unter Umgehung ihrer Verbände direkt an die entscheidenden politischen Instanzen gewandt (vgl. das Beispiel des Weissbuchs mit einem neoliberalen Reformprogramm für die Schweizer Wirtschafts- und Sozialpolitik am Anfang der Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts.
• Eine weitere Einflussmöglichkeit der grossen Unternehmen auf die Politik besteht in der direkten Finanzierung von politischen Parteien (vgl. die Streichung der Zahlungen der UBS an die bürgerlichen Parteien im Sommer 2009). Auch die Beeinflussung des Stimmverhaltens im Vorfeld von Volksabstimmungen durch die Wirtschaft spielt eine nicht zu vernachlässigende Rolle.
• Schliesslich antizipiert die Politik die Interessen der Wirtschaft und berücksichtigt sie auch dann, wenn es nicht zu direkter Einflussnahme kommt (vgl. die Rettungsaktion zu Gunsten der UBS). Insgesamt ist die Fähigkeit der Politik, gegenüber den Partikularinteressen einen Rahmen zu setzen, als Folge der Einflussnahme grosser Unternehmen in erheblichem Masse reduziert.
Die Spannung zwischen Idee und Realität im Verhältnis von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft lässt sich am Beispiel der Finanzmarktkrise besonders gut illustrieren. Der fünfte Teil des Dossiers liefert daher eine Analyse zur Entstehung der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise.
Als erstes untersucht MARIO VON CRANACH die „Systemischen Ursachen der Weltwirtschaftskrise“ (Ziff. 5.1 hiernach).
Die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise ist zu grossen Teilen auf gravierende Systemfehler der globalen Finanzwirtschaft zurückzuführen:
• Grundlegende Merkmale unseres globalen Wirtschaftssystems begünstigen die Entstehung von Krisen: Der ungebremste Kapitalismus, die Existenz übergrosser Unternehmen, der teils unkontrollierte Einfluss der Wirtschaft auf die Politik und das Ungleichgewicht in den wirtschaftlichen Leistungsbilanzen grosser Länder.
• Eine immer ungleicher werdende Einkommens- und Vermögensverteilung führt zu gewaltigen Kapitalanhäufungen. Diese bestehen vor allem in Buchwerten (Wertpapieren) und Buchgeld (Guthaben, denen Schulden gegenüber stehen). Die moderne Informationstechnologie führt im globalen Markt zu einem riesigen Umsatz. Der umgesetzten Buchgeldmenge fehlt jeder Bezug zu den in der Realwirtschaft geschaffenen Werten (Buchgeldblase). Die Buchgeldschwemme ist die eigentliche und tiefere Ursache der heutigen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise. Die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen, das Anwachsen der Buchgeldvermögen, die Kreditschöpfung der Banken, die Erfindung neuer „Finanzprodukte“ und die Erhöhung des Umsatzes haben die Beziehung der Finanzwirtschaft zur Realwirtschaft grossenteils aufgehoben. Die Finanzwirtschaft ist weitgehend virtuell und selbst zur Blase geworden. Wenn die Geldschwemme aber Ursache und Ausgangspunkt der Krise war, sollte sie auch Ziel der Reformen sein.
Bisher wenig beachtet ist die Frage, ob die Finanzmarktkrise die Folge einer typisch „männlichen“, übersteigerten Risikobereitschaft sei. Dieser Frage gehen GUDRUN SANDER, JULIA NENTWICH und URSULA OFFENBERGER nach („Die Finanzmarktkrise unter Genderaspekten“; Ziff. 5.2. hiernach).
In der Finanzbranche ist das Kader ausschliesslich durch Männer besetzt. Da Frauen allgemein als risiko-averser gelten, liegt die These nahe, dass die Krise mit Frauen an der Spitze der Banken nicht stattgefunden hätte. Die These lässt sich durch etliche Studien bestätigen, muss aber differenziert werden. Einerseits ist das Kader der Investmentbanken durch eine Karrierekultur mit einer einseitigen Form von Männlichkeit geprägt. Die Motivation ist ausschliesslich auf monetäre Anreize und kurzfristige, individualistische Ziele ausgerichtet. Die übertriebenen Arbeitszeiten und Bonussysteme belohnen auch ein exzessives Risikoverhalten. Allerdings würde es nicht genügen, Männer durch Frauen zu ersetzen, um ausgewogenere Entscheide zu treffen. So zeigen Frauen in reinen Frauengruppen ein ähnliches Risikoverhalten wie Männer in gemischten Gruppen. Generell entscheiden homogene Gruppen normenkonformer, schliessen anderslautende Stimmen aus und überschätzen ihre eigenen Fähigkeiten. Es geht also weniger um bestimmt Eigenschaftend er Geschlechter als um die Gruppenzusammensetzung und um die im betreffenden professionellen Umfeld praktizierten formen von Männlichkeit und Weiblichkeit. Wichtig ist ein Wechsel von der im Finanzsektor herrschenden Dominanzkultur zu einer Partnerschaftskultur, also von der Hierarchie- zu einer Netzwerkstruktur. Gefragt ist ein kultureller Wandel hin zu „weiblichen“ oder „alternativ männlichen“ Werten und Lebenspraktiken.
Neben der systemischen Betrachtung ist auch die historische Perspektive von grosser Bedeutung, wenn man die künftige Entwicklung sinnvoll steuern will. Dieser Perspektive widmet sich PETER HABLÜTZEL in seinem Beitrag „Finanzmarktkrise und Sonderfall Schweiz; ein Interpretationsversuch aus zeithistorischer Perspektive“ (Ziff. 5.3. hiernach).
Die Krise der Finanzmärkte hat deutlich werden lassen, wie abhängig die Schweiz vom internationalen Umfeld ist, welche Gefahren ein überdimensionierter Finanzsektor für die schweizerische Volkswirtschaft darstellt, dass die Selbstregulierung der Finanzwirtschaft nicht das geeignete Rezept gegen systemgefährdende Krisen bildet und wie sehr die Finanzwirtschaft vom Vertrauen des Publikums abhängt. Trotz Sonderfall ist auch die Schweiz in die Finanzmarktkrise einbezogen:
Der schweizerische Finanzsektor ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts national zum volkswirtschaftlichen Schwergewicht und international zu einem Finanzplatz von weltweiter Bedeutung geworden. Nach einer Bankenkrise mit Gesamtverlusten von 40 Milliarden Franken zu Beginn der Neunzigerjahre führte die darauf folgende Flurbereinigung auf dem Finanzplatz Schweiz über verschiedene Fusionen zu einem gewaltigen Konzentrationsprozess. Im Zuge der Globalisierung haben sich die beiden Grossbanken von nationalen Institutionen zu globalisierten Finanzkonzernen gewandelt. Auch die Machtverschiebung von der Realwirtschaft zur Finanzwirtschaft ist vor allem ein Phänomen der Globalisierung. Die neuen Möglichkeiten der Informations- und Kommunikationstechnologie haben das Bank- und Börsenwesen revolutioniert. Die Dominanz der Finanzen hat die moderne Gesellschaft in eine neue Ära geführt. Die „Finanzindustrie“ hat sich in ihrer Entwicklung verselbständigen können, wirkt aber trotz ihrer scheinbaren Autonomie immer wieder und massgeblich auf die Realwirtschaft zurück.
Die Finanzmarktkrise ist in Bezug auf eine international konzertierte Steuerung eines längst global gewordenen Geschäfts aber auch eine echte Chance. Heute geht es darum, nach einer Synthese zu suchen, die einer systemischen Sicht der Nachhaltigkeit verpflichtet ist, das Positive der Sozialen Marktwirtschaft und das Positive des Ordo-Liberalismus in sich aufhebt und so zu emergenten neuen Lösungen findet.
Im Anschluss an die kritischen Analysen zur Finanzmarkt- und zur Wirtschaftskrise geht es im sechsten Teil des Dossiers um die erforderlichen institutionellen Massnahmen.
Als erstes gilt es, den erforderlichen Paradigmenwechsel vom „freien Finanzmarkt“ zum Finanzmarkt als „öffentlicher Dienst“ an der Realwirtschaft zu vollziehen. Dies unternimmt PHILIPPE MASTRONARDI in seinem Beitrag „Der Finanzmarkt ist ein Service Public“ (Ziff. 6.1 hiernach.).
Die herrschende Volkswirtschaftslehre behandelt den Finanzmarkt grundsätzlich wie einen gewöhnlichen Markt, in welchem der Vorteilstausch nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage über den Wert von Geld und Kapital bestimmt. Der Finanzmarkt ist jedoch kein gewöhnlicher Markt. Er ist einem öffentlichen Dienst an der Wirtschaft vergleichbar, welcher Voraussetzungen schafft, auf denen das Wirtschaften beruht. Geld und Kredit sind die „Energieversorgung“ des Kapitalmarktes. Sie gehören zur Infrastruktur der Realwirtschaft. Sie sind Teil der übergeordneten Ordnungspolitik, nicht der Interessenpolitik. Sie gehören zu den Spielregeln, nicht zum Spiel des Marktes.
Der Finanzmarkt ist damit ein Service Public, welcher nicht nur private, sondern auch öffentliche Interessen wahrzunehmen hat. Der Bund ist verfassungsrechtlich befugt, das Banken- und Börsenwesen nicht nur im Sinne polizeilicher Schutzgüter zu regulieren, sondern sie auch so weit zu steuern, als dies im Interesse einer lebensdienlichen Privatwirtschaft erforderlich scheint. Service Public heisst freilich nicht Verstaatlichung. Staatsverantwortung zwingt nicht zu Etatismus. Der Staat hat nur die Gewährleistungsverantwortung dafür, dass die öffentliche Aufgabe im gesetzlich geforderten Sinne wahrgenommen wird. Die Erfüllungsverantwortung, also die Pflicht zur konkreten Erbringung des öffentlichen Dienstes, kann aber in unterschiedlichem Ausmass an private Träger übertragen werden (Modell des Gewährleistungsstaates). Das Geld- und Kreditwesen bleibt im Rahmen des öffentlichen Auftrags Sache der privaten Banken und Börsen.
Dieses Verhältnis von Staat und Markt ist rechtlich durch die Finanzmarktverfassung zu ordnen. Die Staaten haben danach die Grundversorgung mit Finanzdienstleistungen zu gewährleisten und dafür Private beizuziehen. Um die Abkoppelung des Finanzmarktes von der Realwirtschaft zu verhindern, haben die Staaten für die Rückbindung des Finanzmarktes an die Realwirtschaft zu sorgen und ein angemessenes Verhältnis von Kapitalertrag und Arbeitserlös sicherzustellen. Die neue Finanzmarktverfassung muss das alte Paradigma der polizeilichen Regulierung eines privaten Marktes verlassen und zum Paradigma der Staatsverantwortung wechseln, welche so weit wie möglich mit privaten Mitteln wahrgenommen wird.
Ein zentrales Problem der Finanzmarktordnung ist die Grösse gewisser Banken, die sie zu „systemrelevanten“ Einheiten der Volkswirtschaft macht. Dies führt zu einer faktischen Staatsgarantie für Grossunternehmen. Dieser Gefahr will HANS WÜRGLER vorbeugen („Vorbeugung gegen faktische Staatsgarantien für Grossunternehmungen“; Ziff. 6.2. hiernach).
Schon die Altliberalen und die Baumeister der Sozialen Marktwirtschaft haben auf die Gefahren von Grossunternehmungen hingewiesen. Wenn Grossunternehmungen wegen ihrer Klumpenrisiken eine faktische Staatsgarantie erlangen, muss deren Entstehung in Schranken gehalten werden.
HANS WÜRGLER stellt einen Katalog von denkbaren Massnahmen zur Diskussion, der von weichen bis zu harten Interventionen voranschreitet (1. verbale Ermahnungen, 2. finanzielle Anreize, 3. Rechte für Aktionariat und Belegschaft, 4. staatliche Kontrollen, 5. Kompetenzen und Gebote). Vieles liesse sich auf Gesetzesebene regeln. Für anderes wäre es ohnehin Zeit, die Wirtschaftsartikel der Bundesverfassung einer umfassenden Revision zu unterziehen.
Eine Synthese der bis hierher geleisteten Analysen und Folgerungen versuchen PHILIPPE MASTRONARDI und MARIO VON CRANACH unter dem Titel „Ein neuer Finanzmarkt nach der Krise: Auf dem Weg zu einer Verfassung des Kapitalismus“ (Ziff. 6.3 hiernach).
Die Krise ist einerseits eine Folge eines Versagens der Finanzwirtschaft, andererseits aber auch der Grundlagen der heute herrschenden Ökonomik, insbesondere des Glaubens an die Selbstreinigungskraft der Märkte. Versagt hat aber auch das politische Konzept des ökonomisierten Liberalismus. Die Antwort auf die Krise muss daher interdisziplinär gesucht werden. Gefragt ist eine integrative Sichtweise. Ziel muss sein, ein neues Paradigma für das Verhältnis von Staat und Wirtschaft im Bereich des Finanzmarktes einzuführen. Die Staaten haben einen internationalen Finanzmarkt zu gewährleisten, welcher die Grundversorgung der Realwirtschaft mit Geld und Krediten gewährleistet. Sie können damit private Dienstleister beauftragen, haben aber deren Tätigkeit so zu begrenzen, dass sich das Kreditgeschäft nicht zu einer eigenen „Finanzindustrie“ verselbständigen kann.
Die aktuell diskutierten Massnahmen zur Begrenzung des Finanzmarktes genügen nicht. Es braucht darüber hinaus Massnahmen zur Beseitigung bestehender Konstruktionsfehler des kapitalistischen Geld- und Finanzsystems (insbesondere zur Bekämpfung der Blase von Buchgeld und Buchwerten, Massnahmen zur Verringerung des Umsatzes, die Regulierung von auf die Zukunft gerichteten Finanzgeschäften und die Beschränkung der Grösse von Banken).
Diese und andere Massnahmen sind freilich nicht als polizeiliche Freiheitsbeschränkungen zu konzipieren, sondern als Teil der Gestaltung des Finanzmarktes als Service Public. Dieser Paradigmenwechsel bedingt eine Reform der kapitalistischen Wirtschaftsordnung im Sinne eines „verfassten Kapitalismus“, d.h. einer ethisch, politisch und rechtlich orientierten und begrenzten Wirtschaftsordnung, welche nach der kategorialen Hierarchie von Gesellschaft, Politik und Wirtschaft nicht den Primat, sondern die Subsidiarität der ökonomischen Logik durchsetzt. Gesucht ist eine nationale und internationale Wirtschaftsverfassung, welche von der Würde und Gleichberechtigung aller Menschen ausgeht und ihnen reale wirtschaftliche Freiheit verbürgt.
Den Kern einer Verfassung des Kapitalismus bildet eine wirksame Finanzmarktverfassung, welche die Macht des Kapitals zu regulieren versucht. Notwendig dafür ist ein Wechsel vom Paradigma des polizeilich kontrollierten „freien“ Marktes zum öffentlichen Dienst als Infrastruktur der Realwirtschaft. Der internationale Finanzmarkt ist von der Finanzwirtschaft im Auftrag der Staaten und nach deren Vorgaben zu erfüllen. Es wird somit keine Verstaatlichung des Bankenwesens gefordert. Die privaten Banken werden lediglich an Vorgaben und Schranken gebunden, welche ihnen demokratisch zu setzen sind.
Das hier skizzierte Modell hat bewusst den Charakter eines Zielbildes, das als Orientierungshorizont einer möglichen praktischen Entwicklung der Wirtschaftspolitik der Staaten dienen kann. Das Zielbild soll nur als regulative Idee dienen, an welcher sich die pragmatischen Schritte zur Neugestaltung des Finanzmarktes ausrichten können. Die Umsetzung des skizzierten Zielbildes wird mit zahlreichen einschränkenden Realisierungsbedingungen und Hindernissen zu rechnen haben. Die dagegen erhobenen Einwände sind aber keine Argumente gegen die geforderte Kompetenzzuteilung an den Staat gegenüber der Wirtschaft. Sie führen nur zu einem vorsichtigen und schrittweisen Vorgehen. Anzustreben ist ein Mehr-Ebenen-Modell der demokratisch gesteuerten Weltwirtschaftsordnung mit weltweiten, regionalen und nationalen Teilkompetenzen.
* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: