Abschied von der kommunistischen Fiktion der Hyperglobalisierung

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Ist die Globalisierung der Märkte zu weit gegangen? Neigt sich das Zeitalter, in dem die praktische Aufgabe von Ökonomen vordringlich in der Argumentation für mögliche Effizienzgewinne aus Marktöffnung und Wettbewerbsintensivierung bestand, möglicherweise aus guten Gründen dem Ende zu? Der Beitrag plädiert für eine moderate Globalisierungspolitik.

Die entscheidende politisch-ökonomische Frage der Zeit ist heute, wie der Primat demokratisch legitimierter Ordnungspolitik vor der „schöpferischen Zerstörung“ (Schumpeter 1950: 134ff.) durch den allgegenwärtigen Standortwettbewerb zurückgewonnen werden kann, sei es auf nationaler oder auf supranationaler Ebene. Die epochale Herausforderung liegt also zunehmend im zerstörerischen Moment der schumpeterianischen Fortschrittsformel. In der modelltheoretischen Idealwelt neoklassischer Bauart taucht dieses Moment allerdings kaum auf. In ihr erzeugt die Öffnung von Märkten und die Intensivierung des Wettbewerbs stets eine win-win-Situation: Im freien Markt kommen ja Tauschverträge, also Geschäfte, immer nur zustande, wenn beide Seiten daraus einen Vorteil ziehen. Ergo wächst der Wohlstand aller Beteiligten. Interessierte Kreise in Wirtschaft und Politik übernehmen diese „wissenschaftliche“ Botschaft des ökonomischen Kontraktualismus noch so gerne, um uns immer weitere internationale Freihandelsabkommen zu verkaufen. Diese dienen gemäss dem globalophilen Credo definitionsgemäss immer allen beteiligten Ländern, wenn sie denn zustande kommen. Der weltweite Wohlstandskuchen wächst, und sollte es irgendwo als vorübergehende Nebenerscheinung einige lokale Verlierer geben, so kann man sie allenfalls – jenseits des economic point of view – sozialstaatlich entschädigen. Es geht vom disziplinären Identitätsstandpunkt aus um eine höhere Mission, nämlich um die Maximierung des (allerdings diffus bleibenden) Weltgemeinwohls dank der optimalen Allokation aller weltweit verfügbaren Produktionsfaktoren (Ulrich 2016: 411). Nur: optimal für wen konkret?

Die „kommunistische Fiktion“ des ökonomischen Liberalismus

Die abstrakte Vorstellung einer letztlich konfliktfreien Gemeinwohlsteigerung durch freie Märkte und Freihandel hat Nobelpreisträger Gunnar Myrdal (1932/1976: 48, 113, 135ff., 188) schon vor mehr als 80 Jahren als die „kommunistische Fiktion“ des ökonomischen Liberalismus bezeichnet. In der Globalisierungseuphorie der letzten Jahrzehnte ist sie buchstäblich zur grenzenlosen Ideologie übersteigert worden. Das hat ihre überzeugten Anhänger kaum gekümmert: Ideologisch denken bekanntlich immer nur die Anderen. Dementsprechend wurde die Globalisierungskritik, die seit der Jahrtausendwende immer lauter wurde, von den Vertretern der herrschenden Lehre in Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik allzu lang pauschal als Ausdruck einer wirtschaftsfeindlichen Ideologie abgetan. Daran vermochte auch kaum etwas zu ändern, dass sich zu den Kritikern mehr und mehr international führende, aber vom Mainstream abweichende Ökonomen wie beispielsweise John Gray (1999), Joseph Stiglitz (2002), Jeffrey Sachs (2007) und nicht zuletztder Harvard-Ökonom Dani Rodrik gesellten. Letzterer hat den Kernpunkt seiner Kritik an einer bedingungs- und grenzenlosen „Hyperglobalisierung“ (Rodrik 2011), die in die Ohnmacht nationaler Politik und in eine Legitimationskrise der Demokratie zu münden droht, schon im Untertitel seines ersten Buchs zum Thema angedeutet: Die ökonomische Integration der Weltmärkte ist nur um den Preis der sozialen Desintegration innerhalb der beteiligten Länder zu haben (Rodrik 2000).

Zwei Seiten des Wettbewerbs: win-win und win-lose

Und dieser Zusammenhang, der die „kommunistische Fiktion“ der Globalisierung so drastisch widerlegt, ist eben nicht nur akzidenteller, sondern systematischer Natur. Die Freihandelsdoktrin beruht bekanntlich auf dem alten wirtschaftstheoretischen Theorem vom komparativen Vorteil, demgemäss es für den beidseitigen Nutzen genügt, wenn jedes Land sich auf die Produktion und den Export jener Güter spezialisiert, bei denen es einen relativen Kostenvorteil verfügt. Dem mag durchaus so sein – der Hund liegt woanders begraben. Vor lauter Konzentration auf das Aufzeigen der win-win-Situation für beide Handelspartner geht regelmässig vergessen, dass es neben den direkt Beteiligten auch indirekt Betroffene gibt; und dort – nämlich bei den nicht zum Zug gekommenen Konkurrenten – finden sich systembedingt die Verlierer der internationalen Marktöffnung und Wettbewerbsintensivierung.Mehr Wettbewerb bedeutet eben unausweichlich auch die Auflösung von alten Tausch- und Kooperationsbeziehungen (Thielemann 2009: 41ff.; vertiefend ders. 2010: 143ff.). Als Kehrseite des win-win der neuen Handelspartner resultiert immer zugleich eine systematische win-lose-Wirkung. Dem Umsatz- und Ertragsvorteil, den ein Anbieter aus dem Export seiner Güter zieht, steht im Exportland der Auftragsverlust der dortigen Anbieter gegenüber. Und dem Kostenvorteil, den umgekehrt ein inländischer Nachfrager daraus zieht, dass er auf das günstigere Angebot eines ausländischen Anbieters zugreifen kann, steht logischerweise der Nachteil aller inländischen Anbieter gegenüber, die ohne den „fremden“ Konkurrenten vielleicht ins Geschäft gekommen wären. Indem heimische Unternehmen Aufträge verlieren, kommen unweigerlich auch ihre Arbeitnehmer unter Druck. Um wettbewerbsfähig zu bleiben oder es wieder zu werden, muss rationalisiert werden. Im Klartext bedeutet das Entlassungen und einen wachsenden Sektor mit tiefen Löhnen und generell verschlechterten bis prekären Arbeitsbedingungen für die noch Beschäftigten. Es liegt auf der Hand, dass davon Länder mit hohem Aussenhandelsdefizit wie die USA, um ein aktuelles Beispiel zu erwähnen, besonders stark betroffen sind.

„Cluster“-Risiken des globalen Standortwettbewerbs

Mehr noch: In einer globalisierten Ökonomie spezialisieren sich oft ganze Regionen eines Landes auf eine Branche und bilden entsprechende Netzwerke von Herstellern, Zulieferern, benötigten Dienstleistern und Ausbildungsstätten heraus. Wird dann ein solcher „Cluster“im internationalen Standortwettbewerb von billigeren Konkurrenzländern aus dem Markt gedrängt, so ist der soziale Niedergang der betroffenen Region programmiert und ihre wirtschaftliche Wiederbelebung nur mit einem oft lange dauernden Strukturwandel möglich. Mag der volkswirtschaftliche Kuchen insgesamt infolge des Effizienzgewinns aus der internationalen Arbeitsteilung auch gewachsen sein, so sind die Folgen solcher regionaler Schäden doch fatal. Die u.U. extrem hohen gesellschaftlichen Kosten sind, ökonomisch gesprochen, im Globalisierungskalkül nicht voll internalisiert – es mangelt daher regelmässig an geäufneten Mitteln zur Kompensation der Verlierer, und alternative Beschäftigungsmöglichkeiten im selben Umfang stehen meistens nicht bereit. Mit dem stetig wachsenden Tempo des technologischen Wandels wächst das regionale oder branchenbezogene Risiko, unversehens zu den Verlierern zu gehören. Vom deutschen Ruhrgebiet, das sich langsam erholt hat, bis zum amerikanischen „Rust Belt“, in dem seit dem Niedergang der dortigen Stahlindustrie anhaltend trostlose soziale Verhältnisse bestehen, sind die Fallbeispiele nur allzu deutlich.

Populismus oder das Ressentiment gegen das win-win-Gerede der „Eliten“

Längst zeigt die ohne Rücksicht auf die wachsende Zahl von Verlierern vorangetriebene Hyperglobalisierung auch ihre mentalen und, wie man heute sagt, identitätspolitischen Konsequenzen. Nicht mehr nur die Verlierer in den sozialen Milieus der Geringqualifizierten, Schlechtbezahlten, Prekärbeschäftigten und Langzeitarbeitslosen sind von der Entwicklung überfordert und hoffnungslos abgehängt, sondern auch die Mittelklasse fürchtet zunehmend um ihren Lebensstandard. Viele sehen sich vor dem drohenden sozialen Abstieg und empfinden es als höchst unfair, dass sie trotz harter Arbeit an den Früchten des volkswirtschaftlichen Produktivitätsfortschritts kaum mehr teilhaben. Daraus erwächst über kurz oder lang eine Legitimationskrise der herrschenden Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik: Den zahlreichen Verlierern erscheint das win-win-Gerede der tonangebenden Profiteure verständlicherweise als zynische Provokation oder als Ausdruck von Ahnungslosigkeit. Und so projizieren die Zu-kurz-Gekommenen die Ursachen ihrer Frustration bald einmal auf die Repräsentanten der beklagten Verhältnisse, also auf die politische „Elite“ oder die „Classe politique“, die ihnen das eingebrockt hat. Hinzu kommt wachsendes Ressentiment gegen die tatsächlichen oder vermeintlichen „fremden“ Konkurrenten, seien es Immigranten oder ausländische Personen und Institutionen ganz allgemein.

Das alles lässt sich realpolitisch instrumentalisieren. Je weiter die soziale Desintegration fortschreitet, umso mehr greift in immer mehr globalisierungsbetroffenen Ländern ein symptomatischer Populismus um sich: Die frustrierten Wutbürger lassen sich regelmässig von den einfachen Botschaften vermeintlich volksnaher Politiker, deren Ziele nur scheinbar mit ihren eigenen übereinstimmen, trompieren. Oder schreibt sich dieses Lehnwort neuerdings als „trumpieren“?

Zukunftsfähiger Leitgedanke: moderate Globalisierungspolitik

Auch der übelste Trumpismus wird sich jedoch nicht lange damit begnügen können, die desavouierte Globalisierungseuphorie der politökonomischen Eliten einfach in eine ebenso undifferenzierte, abgrundtiefe Globalisierungsphobie umzudrehen. Die vernünftige Alternative zur Hyperglobalisierung ist nicht ein nationalkonservativer Isolationismus, sondern eine an Kriterien der Human-, Sozial- und Umweltverträglichkeit orientierte, moderate Globalisierungspolitik. Nicht etwa der Verzicht auf internationale Freihandelsabkommen, sondern ganz im Gegenteil das Aushandeln anspruchsvollerer Abkommen tut not. Der Knackpunkt ist klar zu benennen: Es ist nicht akzeptabel, dass unter dem Deckmantel des Freihandels ein einseitiger Investitionsschutz für ausländische Firmen gegen fast alle Veränderungen der zukünftigen politischen Rahmenbedingungen und damit der definitive Vorrang der globalen Wirtschaft vor der nationalen Politik festgeschrieben wird. Nur Freihandelsabkommen, die einen hinreichenden Schutz der sozial- und umweltpolitischen Errungenschaften eines Landes und ihrer zukünftigen Weiterentwicklung in demokratischen Willensbildungsverfahren garantieren, sind aus der Sicht der mehrheitlich wohl durchaus vernünftig denkenden Bürgerinnen und Bürger legitim und mehrheitsfähig. Insofern geht es nicht mehr nur einseitig um (effizienzorientierte) Marktöffnung, sondern immer zugleich um (gesellschafts- und umweltpolitisch orientierte) Marktbegrenzung (vgl. Ulrich 2016: 366f., 399ff). Erst eine dementsprechend ausbalancierte Wirtschaftspolitik dürfte den aufkommenden populistischen Tendenzen nachhaltig die Grundlage entziehen.

Literatur

 Gray, J. (1999): Die falsche Verheissung. Der globale Kapitalismus und seine Folgen, Berlin: Alexander Fest.

Myrdal, G. (1976): Das politische Element in der nationalökonomischen Doktrinbildung, Bonn-Bad Godesberg: Verlag Neue Gesellschaft (1. Aufl. Berlin 1932).

Rodrik, D. (2000): Grenzen der Globalisierung. Ökonomische Integration und soziale Desintegration, Frankfurt/New York: Campus.

Rodrik, D. (2011): Das Globalisierungsparadox. Die Demokratie und die Zukunft der Weltwirtschaft, München: Beck.

Sachs, J. (2007): Wohlstand für viele. Globale Wirtschaftspolitik in Zeiten der ökologischen und sozialen Krise, Berlin: Siedler.

Schumpeter, J. A. (1950): Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 4. Aufl., München: Francke.

Stiglitz, J. (2002): Die Schatten der Globalisierung, Berlin: Siedler.

Thielemann, U. (2009): System Error. Warum der freie Markt zur Unfreiheit führt, Frankfurt/Main: Westend.

Thielemann, U. (2010): Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept. Kritik des Neoliberalismus, Marburg: Metropolis.

Ulrich, P. (2016): Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Ökonomie, 5. Aufl., Bern: Haupt (1. Aufl. 1997).

 

Zuerst erschienen am 25.11.2016 auf der Plattform Ökonomenstimme: http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2016/11/abschied-von-der-kommunistischen-fiktion-der-hyperglobalisierung/

 

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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