Der blinde Fleck der Schweiz im internationalen Steuerstreit

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Von Kontrapunkt* vom 1. November 2008

Seit Jahren gerät die Schweiz mit ihrer Steuerpolitik immer wieder in die Kritik von EU-Politikern und OECD-Experten. Am jüngsten OECD-Treffen vom 21. Oktober 2008 in Paris wurde der Druck auf unser Land einmal mehr erhöht. An verschiedenen Fronten (v.a. nicht gewährte Amts- bzw. Rechtshilfe bei Steuerhinterziehung und privilegierte Holding -Besteuerung) wird der Schweiz vorgeworfen, Kapital bzw. Kapitalerträge aus Ländern, denen gemäss dem Domizilprinzip die Steuerhoheit zusteht, mittels unfairer Steuerpraktiken anzulocken und so im Steuersubstrat der betroffenen Länder zu „wildern“, wie es vonseiten der OECD schon 1998 in ihrer Dokumentation Harmful Tax Competition: An Emerging Global Issue hiess. Als „schädliche“ und insofern unfaire Formen des internationalen Steuerwettbewerbs werden Praktiken bezeichnet, die „in erster Linie … auf Fiskalgewinne zu Lasten ausländischer Steueraufkommen abzielen“. Nach den OECD-Grundsätzen darf die Steuerpolitik eines Staates nicht darauf zugeschnitten sein, mit steuerrechtlichen Anreizen die Abwanderung steuerpflichtigen Kapitals oder seiner Erträge aus dem Domizilland zu unterstützen, würde dies doch den legitimen Anspruch der betroffenen Staaten auf ihr heimisches Steuersubstrat aushöhlen. Die Freiheit jedes Bürgers oder Unternehmens zur grenzüberschreitenden Standortverlagerung, also zur Auswanderung, ist damit nicht in Frage gestellt.

Länder, die diesen Grundsätzen systematisch zuwider handeln, bezeichnet die OECD als „Steuerhäfen“. Seit dem Jahr 2000 führt sie eine periodisch angepasste schwarze Liste nicht-kooperierender Staaten. Die Schweiz, notabene selbst OECD-Mitglied, ist daran wiederholt nur knapp vorbeigeschrammt und jetzt erneut ein heisser Kandidat für diese zweifelhafte Auszeichnung.  Der deutsche Finanzminister Steinbrück denkt bereits laut über gesetzliche Sanktionen gegen die „Steueroasen“ nach, dabei unverblümt Richtung Schweiz schauend. Über ähnlichen Plänen brüten die Behörden der USA. Und die Schweiz? Sie reagiert wie eh und je fast unisono mit pauschaler Zurückweisung aller Kritik und verweist auf die bestehenden rechtsgültige (Doppelbesteuerungs- und Zinsbesteuerungs-)Abkommen.

Offenkundig hat jedoch die schweizerische Aussen(wirtschafts)politik in diesem volkswirtschaftlich bedeutsamen Bereich bisher keinen nachhaltigen Erfolg. Woran liegt das? Unsere These lautet, dass an allen Baustellen der schweizerischen Steuerpolitik gegenüber dem Ausland im Kern derselbe blinde Fleckdauerhafte Problemlösungen verhindert: der Kurzschluss zwischen Interessen- und Ordnungspolitik. Gemeint ist die Vermischung zweier prinzipiell auseinander zu haltender Ebenen: jener der Vertretung eigener Interessen im Wettbewerb und jener der Bestimmung der für alle Wettbewerber geltenden ordnungspolitischen Spielregeln des Wettbewerbs. Auf dieser zweiten, übergeordneten Ebene geht es darum, nach unparteilichen Gesichtspunkten die Voraussetzungen eines fairen Wettbewerbs zu sichern. Staaten, die sich geschäftstüchtig als Steuerfluchthäfen anbieten, missachten die Zweistufigkeit des Problems und übernehmen keine angemessene ordnungspolitische Mitverantwortung für faire internationale Wettbewerbsbedingungen.

Eine übergeordnete Wettbewerbsordnung als notwendig zu befürworten ist seit langem die politisch-ökonomische Standardsicht von tragfähiger marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik – auch und gerade seitens des neo- und ordoliberalen Verständnisses. Der Begriff der Wettbewerbsordnung stammt selbst von einem der neoliberalen Vordenker, Walter Eucken. Im fairen Wettbewerb soll nichts als die bessere Leistung gewinnen. Walter Eucken schrieb dazu schon 1946 klipp und klar: „In der Wettbewerbsordnung kann sich der Leistungswettbewerb entwickeln. Schädigungs- und Behinderungswettbewerb fehlt.“

Diesbezüglich stellt der Steuerwettbewerb heikle ordnungsethische und -politische Anforderungen. Aus ordoliberaler Sicht ist er nur so weit zu begrüssen, wie er auf die Anbieter – das sind im Fall des internationalen Steuerwettbewerbs die staatlichen Behörden – Anreize ausübt, die Leistungen ihres Service public und der allgemeinen Staatsverwaltung zu steigern. Hingegen liegt, mit Eucken gesprochen, ein „Schädigungs- oder Behinderungswettbewerb“ vor, soweit ausländisches Kapital nicht mittels besserer Infrastruktur- oder Verwaltungsleistungen angezogen wird, sondern ihm schlicht im definierten Sinn unfaire Steuervorteile offeriert werden. Dies vermindert die Leistungsfähigkeit der betroffenen Staaten, soweit sie das ihnen entzogene Steueraufkommen nicht  einfach den weniger mobilen Steuerpflichtigen auferlegen, was aber zu einem landesinternen Fairnessproblem führt. (Im innerschweizerischen Steuerwettbewerb wird dieses Problem bekanntlich mittels des Finanzausgleichs gelöst. Dieser gleicht nicht-leistungsbasierte Standortnachteile oder standortbedingte Sonderlasten wenigstens teilweise aus.)

Aus dieser neo- und ordoliberalen Standardsicht ist die schweizerische Steuerpolitik gegenüber dem Ausland auf altliberalem Niveau, also im Laissez-faire des 19. Jahrhunderts, stehen geblieben. Man wittert hinter der Kritik von EU und OECD regelmässig nichts als den „Neid“ auf die Stärke des eidgenössischen Finanzplatzes oder eine wettbewerbsfeindliche eurokratische Regulierungs- und Steuerharmonisierungswut („Steuerkartell“). Diese reflexartig gepflegte Abwehrrhetorik vernebelt allerdings nur noch im Inland den Adressaten – und vor allem den Absendern selbst – einigermassen erfolgreich den klaren Blick auf die erwähnten ordnungspolitischen Erfordernisse eines legitimen und gemeinwohldienlichen Steuerwettbewerbs.

Ganz anders, als es uns die helvetische Finanzplatzrhetorik weismachen will, ist es vor allem die Schweiz, die hier eine wettbewerbsfeindliche Politik betreibt. Ihre Steuerpraktiken müssen zum Teil als eine Form von staatlichem Protektionismus betrachtet werden. Indem unsere Gesetzgebung steuerflüchtigem Kapital „Finanzasyl“ bietet, d.h. es vor dem Zugriff der rechtsstaatlich legitimierten und zuständigen Steuerbehörden ihres Herkunftslandes schützt, gewährt sie dem einheimischen Bankenplatz einen nicht leistungsbasierten Wettbewerbsvorteil. Genau das ist die wettbewerbspolitisch und völkerrechtlich fragwürdige Funktion der schweizerischen und liechtensteinischen Unterscheidung zwischen „einfacher Steuerhinterziehung“ und Steuerbetrug (definiert durch Dokumentenfälschung). Aus ihr wird die Doktrin abgeleitet, im ersten Fall anderen Staaten die Amts- und Rechtshilfe aufgrund der nicht gegebenen doppelten Strafbarkeit in jeweils beiden Staaten zu verweigern: „Einem Ersuchen wird nicht entsprochen, wenn Gegenstand des Verfahrens eine Tat ist, die auf eine Verkürzung fiskalischer Abgaben gerichtet erscheint… Jedoch kann einem Ersuchen um Rechtshilfe entsprochen werden, wenn Gegenstand des Verfahrens ein Abgabebetrug ist“ (Art. 3, Abs. 3, des Schweizerischen Bundesgesetzes über internationale Rechtshilfe in Strafsachen).

Kann es verwundern, dass  eine solche Steuerpolitik vom Ausland zunehmend als höchst unfair betrachtet wird und unter Gegendruck gerät? Die wenig solidarische Position, die die schweizerische „Realpolitik“ in internationalen Verhandlungen vertritt, ist aus ordnungsethischer Sicht argumentativ dermassen schwach fundiert, dass es vor allem „realistisch“ ist, ihr weitere Rückschläge und weitere Reputationsschäden für das internationale Ansehen der Schweiz vorauszusagen – und endlich nach einer zukunftsfähigen Neuorientierung der schweizerischen Steuerpolitik gegenüber EU und OECD zu suchen. Wie könnte diese überfällige Neuorientierung aussehen?Wir befürworten durchaus einen Steuerwettbewerb auf fairer und damit nachhaltig vertretbarer Basis. Wir schlagen deshalb vor, dass die schweizerische Steuerpolitik

(1) sich modernen wettbewerbspolitischen Standards öffnet und dementsprechend ihre ordnungspolitische Mitverantwortung für einen fairen internationalen Steuerwettbewerb anerkennt;

(2) diese neue Position ausdrücklich kommuniziert und verbindliche Übergangsfristen bis zur Beseitigung aller international als unfair geltenden Praktiken aushandelt;

(3) sich wo immer möglich an die Spitze von Bemühungen um die Verbesserung internationaler Standards und Spielregeln des Steuerwettbewerbs setzt, statt wie bisher nur defensiv zu reagieren.

Angesichts der international bedeutenden Stellung des schweizerischen Finanzplatzes, der etwa ein Drittel der offshore angelegten Privatvermögen der Welt verwaltet, ist dies zur Abwechslung keine Form der Selbstüberschätzung unseres kleinen Landes, sondern die ihm sachgemäss zufallende Rolle. Wenn die Schweiz die Probleme auf der ordnungspolitischen Ebene angeht und sich glaubwürdig für faire, unparteiliche Spielregeln einsetzt, kann sie auch Reziprozität einfordern, also den Grundsatz vertreten, dass von ihr – fairerweise! – keine einseitigen Vorleistungen verlangt werden dürfen, etwa in Sachen Reform des Bankgeheimnisses (Elimination seines Missbrauchs als Steuerhinterziehungsgeheimnis), sondern alle konkurrierenden grossen Finanzplätze in die zukünftige Wettbewerbsordnung einzubinden sind. Das dürfte lang genug dauern, um die Finanzbranche für die Zeit nach dem Steuervermeidungs-Protektionismus leistungs- und wettbewerbsfähig zu machen.

Wie immer ist eine solche ordnungspolitische Neuorientierung nur realisierbar, wenn die verantwortlichen Behörden die längerfristigen Interessen der ganzen Volkswirtschaft ins Zentrum stellen und jeder einseitigen Orientierung an kurzfristigen Interessen einzelner Branchen widerstehen. Andernfalls wächst einmal mehr die Gefahr, dass die helvetische Pfründenpolitik über kurz oder lang zu umso heftigeren Anpassungsschocks führt. Gute Ordnungspolitik ist letztlich auch eine nachhaltige Politik, die heute für die Leistungsfähigkeit der Volkswirtschaft in der Zukunft sorgt. Nur so kann die Schweiz zwar nicht alle, wohl aber ihre legitimen volkswirtschaftlichen Interessen als leistungsfähiger Finanzplatz weiterhin erfolgreich vertreten und ausserdem ihrem etwas bröckelnden internationalen Ansehen neue Ausstrahlung verleihen.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
kontrapunkt, der zurzeit 22-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: Prof. Dr. Klaus Armingeon, Politikwissenschafter, Universität Bern; Prof. Beat Bürgenmeier, Volkswirtschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Dr. iur. Gret Haller, Universität Frankfurt am Main; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich.

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