Die Verbandsbeschwerde: ein Element gesellschaftlicher Gewaltenteilung
Autorin/Autor: Philippe Mastronardi
Von Kontrapunkt* vom 3. Oktober 2008
Die Volksinitiative gegen das Verbandsbeschwerderecht hat zwar im Ständerat wenig Rückhalt gefunden, wird aber im Nationalrat nochmals heftig umkämpft. Dabei wird v.a. um praktische Mängel des Begehrens gestritten, welche allenfalls durch einen Gegenvorschlag der Bundesversammlung behoben werden könnten. Übersehen wird allerdings oft, dass es nicht um die Ausgestaltung der Initiative geht, sondern um eine Grundsatzfrage: Brauchen wir die Verbandsbeschwerde als Element unserer demokratischen und rechtsstaatlichen Grundordnung? Hilft sie uns, ein Gleichgewicht zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft herzustellen? Die Antwort ist ja, denn das Verbandsbeschwerderecht ist ein notwendiges Instrument, um den liberalen Rechtsstaat zu verwirklichen.
Die Initianten geben vor, die Demokratie gegen ein Überborden des Rechtsstaates schützen zu wollen. Sie setzen dabei den Mehrheitsentscheid absolut und verstehen Demokratie als blanke Mehrheitsherrschaft, ohne Bindung an das übergeordnete Recht. Das ist zumindest ein Missverständnis sowohl von Demokratie wie von Rechtsstaat. Es ist das gleiche Missverständnis, das hierzulande auf Bundesebene einer Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit entgegensteht: Richtig verstanden bedingen und ergänzen Demokratie und Rechtsstaat einander. Sie stellen und beantworten nämlich nicht die gleichen Fragen. Demokratie befasst sich mit Fragen des Gesamtinteresses und der Nützlichkeit: Was wollen wir? Der Rechtsstaat befasst sich mit Fragen der Gerechtigkeit gegenüber den unmittelbar Betroffenen: Was dürfen wir? Das ist im Geltungsbereich des Verbandsbeschwerderechts erst bei der konkreten Ausgestaltung des Bauvorhabens erkennbar, nicht schon beim demokratischen Vorentscheid. Die Demokratie gewährleistet die Optimierung des Gesamtnutzens. Der Rechtsstaat schützt den Einzelnen beim Vollzug der Beschlüsse der Demokratie. Das sind zwei verschiedene Fragen, die aber beide notwendig sind, wenn wir in Freiheit zusammenleben wollen.
Der Vollzug des Baurechts ist zum guten Teil ein blanker Streit um die Interessen eines Bauherrn und seiner Nachbarn. Das Institut der Verbandsbeschwerde verleiht diesem Streit die rechtsstaatliche Dimension einer Abwägung zwischen öffentlichen und privaten Interessen. Der beschwerdeführende Verband ist dabei ein wertvoller Partner der Behörden in ihrem Auftrag, alle relevanten Rechtsgrundsätze zur Geltung zu bringen. Er stellt dem kurzfristigen persönlichen Nutzen privater Streitparteien die langfristigen Pflichten unserer Generation gegenüber der Natur und den künftigen Generationen entgegen. Private dürfen vor Gericht nur ihre eigenen Interessen geltend machen. So sind Private nach der neusten Praxis des Bundesgerichts z.B. nicht legitimiert, sich gegen die Luftverschmutzung zu wehren, weil die Luftqualität ein öffentliches Gut ist. Nur ein Verband, der sich für den Schutz der Umwelt einsetzt, darf als Anwalt solcher öffentlicher Interessen auftreten. Er tut dabei nichts anderes, als den Verfassungsauftrag der Nachhaltigkeit wahrzunehmen, den Artikel 73 unserer Bundesverfassung formuliert. Dabei ist er selbst vollumfänglich an das geltende, demokratisch gesetzte Recht gebunden: Die Verbandsbeschwerde kann nur dafür sorgen, dass dieses Recht nicht gebeugt wird, wo es unbequem erscheint. Sie bindet alle gleichermassen an das Recht.
Wie kann es dazu kommen, dass eine liberale Partei die Gleichheit vor dem Recht bekämpft? Diese Frage verweist auf eine noch grundsätzlichere Dimension des Kampfes gegen das Verbandsbeschwerderecht: Die Initianten verstehen ihr Anliegen als Teil der Forderung des Liberalismus nach Deregulierung und Liberalisierung. Aber was heisst das liberale Credo in der vielfach vernetzten modernen Welt? Es ruft nach möglichster Selbst- und Mitbestimmung des mündigen Bürgers in optimaler Freiheit und Selbstverantwortung. Dazu braucht der Bürger aber adäquate Mitwirkungsrechte, um seine Mitverantwortung wahrnehmen zu können. Dies gilt sowohl für die Ebene der Demokratie wie jene des Rechtsstaates. Dabei ist nicht nur das Eigentum, sondern die umfassend verstandene Freiheit rechtsstaatlich zu schützen. Das Verbandsbeschwerderecht dient aber gerade dazu, den Streit zwischen Bauherr und Nachbarn ums Eigentum auf eine andere Ebene zu heben: auf jene der umfassend verstandenen Freiheit.
Die grundsätzliche liberale Forderung, auf welche sich die Initianten berufen, ist jene nach „weniger Staat, mehr Freiheit und Verantwortung“. Dieser Wahlspruch will aber mehr Freiheit nicht nur für die Wirtschaft, sondern und vor allem für die Gesellschaft. Es geht nicht nur um das Eigentum, sondern um die reale Freiheit des Einzelnen in einer freien Gesellschaft. Was dem Staat weggenommen werden soll, hat nicht einfach an die Wirtschaft zu gehen, sondern prioritär an die Gesellschaft. Sonst verkürzt sich das liberale Credo auf die Verschiebung von Macht vom politischen System auf das Wirtschaftssystem. Seine Legitimation nimmt das Credo jedoch vom Glauben an die Selbstregulierungskraft der Gesellschaft. Dieser muss daher auch die Möglichkeit verschafft werden, sich sowohl gegen den Staat wie gegen die Wirtschaft zu behaupten. Sonst untergräbt die liberale Position ihr eigenes Fundament.
Das liberale Credo darf freilich nicht an einem veralteten Staatsbild festgemacht werden. Wir sollten den Staat als Teil eines Dreiecks von Staat, Wirtschaft und Bürgergesellschaft (als dem politisch aktiven Teil der Gesellschaft) verstehen. Dieses Dreieck muss eine gesellschaftliche Gewaltenteilung bilden. Gewaltenteilung wird zwar traditionell nur als Machtbalance zwischen Parlament, Regierung und Justiz verstanden. Je mehr die Liberalisierung aber die Grenzen zwischen Staat, Wirtschaft und Gesellschaft fliessend werden lässt, desto stärker zeigt sich aber, dass alle öffentliche Macht verantwortlich gemacht werden muss. Die Machtbalance muss auf das Dreieck der drei Machtträger ausgedehnt werden. Jede der drei Gewalten in diesem Dreieck braucht für ihre Teilverantwortung die geeigneten Institutionen: Die Wirtschaft den Markt, der Staat das Recht und die Bürgergesellschaft die Öffentlichkeit i. S. der Macht der öffentlichen Meinung. Während Markt und Recht je eine hohe Durchsetzungskraft haben, braucht die Öffentlichkeit institutionelle Mittel zur Durchsetzung. Auf der demokratischen Ebene dienen dazu die Volksrechte, auf der rechtsstaatlichen Ebene fehlt es an Instrumenten, weil vor Gericht nur private Interessen zum Ergreifen von Rechtsmitteln legitimieren. Das Verbandsbeschwerderecht ist das einzige Instrument, das der aktiven Öffentlichkeit zur Verfügung steht, um beim Vollzug der Demokratie auf das Übergewicht von staatlicher und wirtschaftlicher Macht Einfluss zu nehmen.
Wer das Verbandsbeschwerderecht einschränken will, stört daher das ohnehin schon prekäre Gleichgewicht der Macht zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Staat. Er schwächt die Gesellschaft und verletzt damit ein zutiefst liberales Grundanliegen.
* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: kontrapunkt, der zurzeit 26-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet; Prof. Beat Bürgenmeier, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Poli-tikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich. Kontakt: kontrapunkt-Geschäftsstelle, c/o ecos, 4001 Basel, Daniel Wiener, Tel. 061 205 10 10