Markt- oder Staatsversagen?
Autorin/Autor: Beat Burgenmeier
Von Kontrapunkt* vom 8. November 2009
Märkte funktionieren in Wirklichkeit nie von selbst. Jeder Markt ist reguliert. Selbstverständlich auch der Finanzmarkt. Ohne Polizist läuft auch in der Wirtschaft nichts.
Juristisch betrachtet ist der Markt nichts anderes als ein Vertragswerk. Den Markt kann es deshalb ohne Obligationenrecht nicht geben. Der Gesetzgeber hat zusätzlich ein Kartellrecht geschaffen, damit der Konsument nicht zu sehr für die hohen Profite bezahlen muss, wenn einige Marktteilnehmer es fertig bringen, den Wettbewerb mit Kartellen und Firmenfusionen einzuschränken. Das Bundesgesetz über den unlauteren Wettbewerb macht zudem deutlich, dass der Wettbewerb nicht von sich aus einfach gut ist. Allerdings übersteigt es meistens die Autorität des Polizisten, dem Anreiz hoher Profite dank Wettbewerbseinschränkungen und Schummeln ernsthaft Einhalt zu bieten. Was kann der Staat tun, wenn er die Macht nicht hat, um seine Aufgabe zu erfüllen? Am einfachsten ist es für ihn, so zu tun, als funktioniere der Wettbewerb dank seinen Gesetzen eigentlich ganz gut. Der Polizist verliert auf diese Weise sein Gesicht nicht. Staat und Wirtschaft machen dann gemeinsame Sache und preisen zusammen Markt und Wettbewerb, als gäbe es nur Gewinner und keine Verlierer. Ein mögliches Marktversagen könne zwar verschiedentlich vorkommen, wird eingeräumt, aber das sei nur eine kurzfristige Störung. Längerfristig setze sich der Markt immer durch und stelle das Gleichgewicht wieder her.
Nicht nur der Markt, sondern auch der Staat wird so idealisiert. Als Wettbewerbshüter übe er eine Funktion, ähnlich eines Nachtwächters, aus, der darüber wache, dass der Markt gut funktioniere. Ansonsten habe er sich gegenüber der Wirtschaft wohl zu verhalten. Auch der Nachtwächter sucht in der Regel eben Bösewichter lieber unter der Laterne als im Dunkeln. Wehe, wenn es dem Staat einfallen sollte, auch im Dunkeln zu suchen und damit direkt in die Märkte einzugreifen. Er würde ja damit die Gewinne von selbst regulierenden Märkten einschränken.
Damit Profite und Boni weiterhin hoch ausfallen, bräuchten nach dieser Ideologie deshalb die Finanzmärkte keine weiteren Regulierungen. Krisen seien nur eine bedauerliche, aber übliche Ausnahme, die sich lückenlos in die lange Geschichte der wirtschaftlichen Zyklen einfügten. Zudem seien sie als eine natürliche Konsequenz menschlichen Verhaltens zu verstehen. Der Mensch sei eben nicht vernünftig. Erfolge machten ihn leichtsinnig und Verluste seien die notwendige Strafe dafür. Der Markt sei deshalb ebenso natürlich wie die Natur des Menschen.
Damit diese idyllische Sicht der Finanzmärkte nicht allzu sehr gestört wird, darf es deshalb auch keine Systemfehler geben. Für solche Fehler wäre ja die Gesellschaft verantwortlich, die dieses System geschaffen hat. Systemfehler können deshalb nur dann entstehen, wenn sich der Staat einmischt. Statt des Marktversagens wird in dieser Logik das Staatsversagen für die heutige Krise verantwortlich gemacht.
Die Schuldzuweisung an Markt- oder Staatsversagen setzt freilich voraus, dass die beiden behaupteten Mängel vergleichbar sind, was zunächst nicht zutrifft. Die Chicago-Schule liefert uns allerdings einen Trick, mit dem wir bequem Äpfel mit Birnen vergleichen können. Wird nämlich den Politikern das gleiche Verhalten wie den wirtschaftlichen Akteuren unterstellt, wird der Vergleich zwischen Markt- und Staatsversagen theoretisch möglich. Anstatt Waren zu handeln und Gewinne zu maximieren, seien Politiker nur daran interessiert, ihre Stimme zu tauschen, um die Chancen ihrer Wiederwahl zu maximieren. Das Parlament sei deshalb nicht fähig, Märkte zu regulieren. Nur der Wettbewerb bringe dies fertig. Wenn also auf den Finanzmärkten etwas schief laufe, könne nur der Staat daran schuld sein, der mit seinen Interventionen den Wettbewerb verzerre. Die Symbolfigur eines solchen Staatsversagens sei Alain Greenspan, der mit einer zu lockeren Geldpolitik die Zinsen in den USA gegen die Marktkräfte zu tief gehalten habe. Als Staatsdiener wird er zum Sündenbock der Subprime Krise. Die Marktakteure schleichen sich aus ihrer Verantwortung und unterschieben sie dem Staat.
Der hier kritisierte dogmatische Erklärungsversuch der aktuellen Finanzkrise macht den Markt zum Feind der Demokratie. Das widerspricht unserem Verständnis eines liberalen Staates, nach welchem Markt und Demokratie keine Gegensätze sind, sondern sich gegenseitig ergänzen. Der Markt bleibt aus unserer Sicht der Demokratie immer untergeordnet. Die aktuelle Krise erinnert uns nur an das, was wir eigentlich aus unserer Geschichte gelernt haben müssten, nämlich dass eine demokratisch legitimierte Politik immer Vorrang vor der Wirtschaft hat. Debattiert jedoch das Parlament strengere Regulierungen der Märkte, erhebt die sich liberal gebende Finanzlobby sogleich den Vorwurf des Staatsversagens, das an der heutigen Krise schuld sein soll. Diese These hat jedoch nichts mit liberalen Werten zu tun, sondern ist Ausdruck eines Wirtschaftskorporatismus, der einseitig Partikularinteressen durchzusetzen versucht. Das Argument des Staatsversagens, das an der heutigen Finanzkrise schuld sein soll, entpuppt sich als eine Strategie der Durchsetzung von Interessen des Finanzplatzes. Dabei wird unterstellt, dass diese Interessen dem Gesamtwohl dienen.
Reiben wir uns den Sand aus den Augen und fragen uns, wie es soweit kommen konnte, dass eine solche obstruse Logik eine derart grosse Verbreitung gefunden hat, dass sich das Parlament nicht getraut, den Finanzmärkten neue, klare und strengere Bedingungen zu diktieren. Warum vertraut es mehrheitlich lieber den Märkten als der Demokratie, die es vertreten sollte? Unsere Antwort kehrt das Argument des Staatsversagens um. Nicht das Staatsversagen ist verantwortlich für die aktuelle Finanzkrise, sondern der Glaube an den sich selbst regulierenden Markt. Wir bezahlen heute die Rechnung eines während beinahe drei Jahrzehnten propagierten Marktdogmatismus, der fälschlicherweise als neoliberal bezeichnet wird. Er hat nichts mit Liberalismus zu tun, sondern ist schlicht Ausdruck einer politischen revisionistischen Strömung. Hinter dem Argument, das versucht, Staatsversagen über Marktversagen zu stellen, stehen konservative Kräfte, die den Staat scheuen, um ihre wirtschaftlichen Privilegien zu sichern. Die Krise hat diese Kräfte entlarvt und wir sind an einer Zeitwende angelangt. Fragen wir uns, was als nächstes kommt:
Vielleicht bringen wir es fertig, wieder dort anzuknüpfen, wo wir standen, bevor die neoliberale Bewegung anfangs der achtziger Jahre angefangen hat. Damals versuchten wir, die Wirtschaft zu demokratisieren. Mitarbeiterbeteiligung, flexible Arbeitszeitmodelle, Gleichstellung der Geschlechter, gleicher Lohn für gleiche Arbeit und Arbeitszeitverkürzung waren die Themen. Slogans wie „unsere Mitarbeiter sind unser wertvollstes Kapital“ machten die Runde. Wir wissen, was seit jener Zeit geschehen ist. Nicht die Mitbeteiligung aller am wirtschaftlichen Geschehen Beteiligten, sondern der Aktienwert wurde zur Messlatte des ökonomisch Richtigen. Die Flexibilisierung der Arbeit wurde einseitig nur im Sinne der Markteffizienz verstanden. Frauenarbeit nahm sicher zu, wurde jedoch zum Teil zur Kaufkrafterhaltung notwendig und brachte die Gleichberechtigung nicht viel weiter. Loyalitätsverlust war die Folge. Wir erlebten einen Revisionismus in Reinkultur und nehmen etwas hilflos zur Kenntnis, dass die Finanzkrise eigentlich Ausdruck einer tiefer liegenden Regulierungskrise ist, die sich in einem Vertrauensverlust gegenüber der Politik und den wirtschaftlichen Machern ausdrückt.
Dieser Vertrauensverlust wird sicher nicht mit dem Vorwurf von Staatsversagen und mit dem Glauben an den Markt überwunden werden. Was es braucht, ist eine Neuorientierung der Wirtschaftspolitik, die jedoch auch eine neue Firmenkultur bedingt. Es stimmt zuversichtlich, dass einige Unternehmen auch während der Zeit des Neoliberalismus diese Kultur gepflegt, Gleichberechtigung ernst genommen, neue Arbeitszeitmodelle erprobt, Mitarbeitern Respekt entgegen gebracht und auf eine Verflachung der Entscheidungshierarchie hingewirkt haben. Auch scheinen wir begriffen zu haben, dass der Aktionär eigentlich eher ein Investor als ein Unternehmer ist, und dass dessen Rechte unbedingt in diesem Sinne gestärkt werden müssen, um den Managern, die sich auch als Unternehmer sehen, Grenzen zu setzen. Wir brauchen echte Unternehmer, die in einem offenen kreativen Umfeld neue Quellen der Wertschöpfung erschliessen, die sozial- und umweltverträglich sind. Die Gleichen, die nur Staatsversagen sehen, messen jedoch die Unternehmen lediglich in kurzfristigen Profiteinheiten. Bei dieser Mentalität versagt jedoch nicht der Staat, sondern die wirtschaftliche Elite.
* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet: