Bürokratie – Management – Governance

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Schweizer Verwaltung und Verwaltungsführung im Wandel

1.  Paradigmen in der öffentlichen Verwaltung 

Die öffentliche Verwaltung in der Schweiz geniesst einen hervorragenden Ruf. Sie ist relativ klein, überschaubar und bürgernahe. Im Zeichen von New Public Management konnte sie sich in den letzten Jahren professionalisieren, ohne ihre traditionell enge Tuchfühlung zum gesellschaftlichen Umfeld zu verlieren. Sie wirkt deshalb weniger abgehoben als manche Verwaltungen im Ausland. Belegschaft und Kader sind vom Arbeitsmarkt kaum abgeschottet und haben sich in Ausbildung und Karriereverhalten den privatwirtschaftlichen Standards angenähert. Manche wichtigen Positionen im öffentlichen Bereich sind mit Persönlichkeiten besetzt, die auch in andern Kontexten zu Spitzenleistungen fähig wären.

Das politische System der Schweiz zeigt im Vergleich zu andern Ländern markante Eigenheiten wie starken Föderalismus, direkte Demokratie, Konkordanz, Kollegialität und Milizsystem. Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht konnte es kaum je grosses Eigengewicht entfalten. Vor allem der Zentralstaat blieb relativ schwach. Die Macht der Parteien wurde gebrochen durch (kartellistische) Wirtschaftsverbände, die ihre Interessen kraftvoll einbringen und zu einem grossen Teil selber (parastaatlich) regeln konnten. Trotz dieser Eigenarten ist das administrative System der Schweiz nicht so einmalig, dass man es nicht mit anderen Staatsverwaltungen vergleichen und bestimmten Clustern zuweisen könnte; im internationalen Vergleich erschiene es dann als ein spezieller Mix des kontinental-legalistischen und des angelsächsisch-pragmatischen Typs von Politik und Verwaltung (vgl. Jann 2002). Künftig wird der globale Anpassungsdruck zu noch mehr Konvergenz führen (etwa durch den sog. „autonomen“ Nachvollzug des europäischen Rechts). Der „Sonderfall Schweiz“ findet mehr und mehr in unseren Köpfen statt, während die schweizerische Gesellschaft sich rasend schnell dem europäischen Mainstream nähert. Die öffentliche Verwaltung ist wie die Entwicklung von Wirtschaft, Wissenschaft, Technik, Kunst und Kultur, von Konsummustern und anderen Verhaltensweisen durch Prozesse der Modernisierung geprägt, wie sie alle Gesellschaften des Westens erfasst haben.

Spätestens seit Niklas Luhmann gilt die gesellschaftliche Ausdifferenzierung als  wichtiges Charakteristikum der Moderne. Die erfolgreich sich spezialisierenden, weitgehend autonomen Funktionssysteme (wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht, Gesundheit etc.) haben moderne Gesellschaften des westlichen Typs äusserst leistungsfähig, aber politisch immer schwieriger steuerbar gemacht. Diese Teil-Systeme sind selbstreferenziell, auf ihre je eigenen Interessen und Entwicklungen bezogen und entfalten je spezialisierte Routinen. Indem sie viele selbst erzeugte Probleme externalisieren, belasten sie ihr Umfeld und delegieren die Widersprüche an das Gesamtsystem. Für die Integration, den Zusammenhalt des Gesamtsystems und für die Bearbeitung solcher Widersprüche erklärt sich traditionellerweise das politische (Sub-)System für zuständig. Wenn die Politik diesen Anspruch auf eine Steuerung der immer komplexeren sozialen Entwicklung einlösen will, ist sie auf Spezialwissen und hohe Fachkompetenz angewiesen, was  eine entsprechende Ausdifferenzierung, Spezialisierung und Professionalisierung der Verwaltung nötig macht. Damit entsteht ein Paradoxon der Demokratie: Die Binnendifferenzierung des politischen Systems als Voraussetzung für Erfolg im Umgang mit gesellschaftlichen Kontexten erfordert eine gewisse Autonomie und Selbststeuerung der Verwaltung. In der Wirtschaft kennen wir eine vergleichbare Situation; die Institutionenökonomie diskutiert sie als Principal-Agent-Problem (Reichard 2002).

In den westlichen Demokratien hat man während Jahrzehnten versucht, dieses Principal-Agent-Problem des öffentlichen Sektors mit Hilfe eines Ausbaus des Rechtsstaats zu lösen. Die Verwaltungen dürften nur das tun, was ihnen gesetzlich vorgeschrieben sei, hiess die Maxime. Die Ansprüche an den Staat wurden rechtlich normiert und damit gerichtlich einklagbar. Mit dieser Art von Rationalität näherten sich die Verwaltungen immer mehr dem von Max Weber beschriebenen Idealtyp der Bürokratie. Doch der rasante gesellschaftliche Wandel der Nachkriegsepoche zeigte die ökonomischen Grenzen eines bürokratischen Leitbilds der Verwaltung auf und verlangte nach mehr Flexibilität des öffentlichen Sektors. Ein neues Paradigma, eine neue Sichtweise auf die Verwaltungsarbeit musste entworfen, politisch abgesegnet und in der Praxis implementiert werden. Solche Paradigmen, solche Denkmodelle oder Konzepte der Verwaltungspolitik strukturieren die Diskussionen zwischen Politik und Administration. Sie bestimmen weitgehend, wie die Verwaltung ihr Umfeld, sich selbst und ihre Aufgabe wahrnimmt. Sie prägen aber auch das Führungsverständnis und damit die Möglichkeiten der Verwaltung als lernfähiges System.

2.  Bürokratie – oder das konditionale Paradigma

Bis weit in die 1980er Jahre hinein blieb die schweizerische Verwaltungslandschaft vorwiegend bürokratisch geprägt. Von Links bis Rechts war kaum umstritten, dass der Politik und ihrem Apparat, dem Staat, bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Entwicklung der Primat zukam. Der breite, nationale Konsens über die Mechanismen der politischen Entscheidfindung war Ausdruck eines intakten Systemvertrauens, das auch die Medien damals noch nicht in Frage stellten. Dieses Vertrauen war vom Wirtschaftswachstum getragen, das während gut dreissig Jahren auch die sozialen Sicherheiten eines neokorporatistischen Systems ermöglicht hat. Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände dominierten die Politik. Die Bundesratswahl von 1959, die eine breite Koalition aller grossen Parteien begründete, ist wohl weniger als Stärke, sondern mehr als ein Zeichen der Abhängigkeit des politischen Systems von der Wirtschaft zu deuten.

Die Repräsentanten des politischen Systems bildeten eine ziemlich homogene, oft durch gemeinsame Erfahrungen in der Milizarmee verbandelte Männer-Elite, welche die Fäden in allen wichtigen Funktionsbereichen der Gesellschaft, v.a. auch in der Wirtschaft, fest in Händen hielt. Die bisweilen recht autoritäre Kultur dieses Systems war Voraussetzung für die funktionierende Konkordanz zwischen politischen Gegnern. Die Verwaltungsspitze hatte mächtig Anteil an diesem auf Konsens getrimmten System. Ihre Chefbeamten gehörten mit zur politischen Elite und nahmen informell grössten Einfluss auf die Entscheidprozesse, ohne dass sie das nach aussen sichtbar machten. Der typische Bundesamtsdirektor, Bernischer Fürsprech, freisinnig, Oberst im Generalstab, verfügte über beste Kontakte ins Parlament, zu Parteien und Verbänden und erwarb sich Autorität nach innen und nach aussen als Spezialist bezüglich Gesetzgebung und Gesetzesauslegung in seinem engeren Fachgebiet. Professionalität hatte damals im politisch-administrativen System fast ausschliesslich eine juristische Ausprägung und war mit einem Führungsverständnis kombiniert, das man in der Armee als Milizoffizier erwerben konnte. Auf der Überzeugung, dass staatliches Handeln ausschliesslich als Vollzug ins Recht gefasster konditionaler Regeln zu verstehen sei, basierten Selbstverständnis und vertrauensvolle Zusammenarbeit von Politik und Verwaltung.

Die bürokratische Steuerung mit ihren stark strukturierten Abläufen war für die Klientel berechenbar und bei hoher Stabilität des Umfelds durchaus auch wirtschaftlich. Sie liess der Verwaltung aber nur wenig Gestaltungschancen und beschränkte ihre Lernmöglichkeiten fast vollständig auf die Fehlervermeidung durch Anpassungslernen innerhalb fest gefügter Routinen (single loop learning). Die reine Inputsteuerung mit Null-Fehler-Toleranz erhöhte die Absicherungsmentalität gerade auch bei Menschen, die zum Teil schon aus überdurchschnittlichem Streben nach Sicherheit den Staat als Arbeitgeber gewählt hatten. Die binäre Logik der Bürokratie (entweder richtig oder falsch), zementiert durch das öffentliche Recht, erschwerte und blockierte manche Veränderungsvorhaben. Verbesserungsvorschläge stiessen oft auf Ablehnung, weil Zustimmung ja hätte heissen können, man habe bisher etwas falsch gemacht.

Das Beharrungsvermögen bürokratischer Organisationen liegt in ihren (rechtlich) fixierten Strukturen begründet. Dazu gehören namentlich auch Aufbauorganisation und Verhaltensregeln. Sie sind auf Dauer gestellte Führungsentscheide, welche die Komplexität reduzieren und dadurch die Organisationen handlungsfähiger machen sollen. Da Verwaltungen traditionell nach dem tayloristischen Prinzip grösstmöglicher Arbeitsteilung organisiert waren, wurden neue Aufgaben und Spezialisierungen sofort strukturell ausdifferenziert, erhielten im Organigramm ihr eigenes Kästchen und mussten über zusätzliche Hierarchiestufen in die Aufbauorganisation re-integriert werden. Das blähte die Verwaltungen auf, und da jede Einheit zur Sicherung ihrer Handlungsfähigkeit möglichst viele Ressourcen zu horten versuchte und einen Abbau mit Hilfe ihrer politischen Klientel meist zu verhindern wusste, vermochten selbst Stellenplafonierungsprogramme ein stetes Wachstum der Verwaltung nicht zu verhindern.

Das Wirtschaftswachstum bewirkte einen infrastrukturellen Nachholbedarf und zwang das politische System seit Ende der 1960er Jahre zu Reformen. Endlich wagte man sich an die Lösung vieler Grundsatzprobleme (z.B. auch das Frauenstimmrecht), unternahm Schritte in Richtung europäischer Wirtschaftsintegration, forcierte den Ausbau der Autobahnen, der Bildungsinstitutionen und des Sozialstaats nach dem Dreisäulenprinzip im sog. Tschudi-Tempo und verschrieb sich mehr und mehr modernen Planungsmethoden (von den Regierungsrichtlinien bis zu den Energie-, Verkehrs- und Medien-Gesamtkonzeptionen), um das Angebot an staatlichen Leistungen auf die wachsende Nachfrage ausrichten zu können. Man diskutierte auch die Frage, wie die Politik die gesellschaftliche Dynamik unter Kontrolle halten könnte und wie die kleine Kollegialregierung ihren politischen Steuerungsauftrag gegenüber einer rasch wachsenden und departemental sich ausdifferenzierenden Verwaltung wahrnehmen sollte (Hongler-Bericht 1967 und Huber-Bericht 1971, die nach militärischem Vorbild eine Stärkung der Führung mittels Stäben vorschlugen und den Ausbau der Bundeskanzlei zur Stabsstelle des Bundesrats einläuteten).

Kehrseite der Politisierung gesellschaftlicher Probleme bildeten die wachsenden Defizite der öffentlichen Haushalte, und als die Wirtschaft Mitte der 1970er Jahre in die Rezession tauchte, wurde dieser Strategie der Boden entzogen. Während es den Spitzenverbänden nicht mehr gelang, die divergierenden Interessen ihrer Klientel unter einen Hut zu bringen, drängten neue Fragen wie Umweltschutz, Lebensqualität und Gleichberechtigung der Geschlechter auf die politische Traktandenliste. Diese neuartigen Themen brachten gleichsam die Folgeprobleme des Wachstums und der Mobilität zum Ausdruck und liessen sich nur schwer mit bisher unter Sozialpartnern bewährten Verhandlungsstrategien angehen. Die Politik versuchte, mit innovativen Ideen zur Verfassungsrevision oder zur föderativen Struktur die divergierenden Interessen zusammenzuhalten, aber das Parteiensystem fand in den späten 70er Jahren nicht mehr die Kraft, gemeinsame politische Perspektiven zu entwickeln.

Die 1980er Jahre brachten eine parteipolitische Polarisierung um Grundsatzfragen der Staatsfunktion. Auch die Verwaltung geriet unter Druck, weil die Polarisierung den politischen Konsens und damit die Legitimationsbasis der bürokratischen Steuerung in Frage stellte. Dabei wurden rasch auch gewisse Pathologien dieses lange so erfolgreichen politischen Steuerungsmodells spürbar. Bürokratie reagiert auf Stress mit Regeln, also mit mehr Bürokratie, weil jedes neu auftauchende Problem als Hinweis dafür genommen wird, dass noch nicht alles perfekt geregelt worden ist. Mit dem Ausbau des Sozial- und Dienstleistungsstaats in den 70er und 80er Jahren zeigten sich die Grenzen des bürokratischen Paradigmas: die Übernutzung des öffentlichen Rechts als Steuerungsressource. Mit einem Bundesgerichtsentscheid ist 1977 das Legalitätsprinzip, das vorher nur für hoheitliche Eingriffe galt, auch auf staatliche Dienstleistungen übertragen und damit auf die Spitze getrieben worden. Weil man staatliches Handeln im Sinn grösstmöglicher Gerechtigkeit mit detaillierten Regelungen steuern wollte, erhoben sich bald auch Klagen gegen die „Gesetzesflut“. Rechtliche Fixierungen förderten eine Anspruchshaltung gegenüber dem Staat, was wiederum einer Verrechtlichung des Verwaltungshandelns Vorschub leistete.

Die 1980er Jahre wurden zum Jahrzehnt, in dem die Verwaltungen ihr gutes Image einbüssten und die Beamten ihr bisher intaktes Selbstbewusstsein verloren. Das war weniger das Ergebnis einer substanziellen Bürokratiekritik als vielmehr die Folge finanzieller Schwierigkeiten, in die der bürokratische Ausbau den Sozial- und Dienstleistungsstaat geführt hatte. Im internationalen Vergleich bislang auf tiefem Niveau, stiegen Staats-, Sozial- und Steuerquote in der Schweiz nun rapide an, und es entstanden auf allen Ebenen des Staates Schuldenberge, deren Bedienung den finanzpolitischen Handlungsspielraum des Bundes, vieler Kantone und Gemeinden drastisch einzuschränken drohte. Was Wunder, dass der parteipolitische Streit vor allem auf dem Feld der Einnahmen- und Ausgabenpolitik des Staates tobte. Das Gewicht der Finanzierungsfragen hat eine gewisse Annäherung an das Denken und Handeln im Privatsektor bewirkt und der Ökonomie als Wissenschaft vom Umgang mit Knappheitsphänomenen auch im öffentlichen Sektor Auftrieb verliehen. Um die Kosten in den Griff zu kriegen, waren Sparübungen angesagt, zum Teil recht drastische und meist in Serie. Regierungen, Parlamente und staatliche Betriebe, die etwas auf sich hielten und dem Zeitgeist entsprechen wollten, unterzogen sich in den 80er Jahren einer von privaten Büros geleiteten Gemeinkosten-Wert-Analyse (GWA) oder anderen Optimierungsübungen. In der Bundesverwaltung zum Beispiel zogen sich die so genannten EFFI-Querschnittmassnahmen über viele Jahre hin, allerdings ohne wesentliche Änderungen in der Aufbauorganisation oder in den Abläufen zu bewirken. Einzig die Zusammensetzung der Kader wurde etwas aufgemischt. Nicht selten konnten jetzt junge Betriebswirte, deren Know how nun auch im öffentlichen Bereich gefragt war, neben den Juristen Karriere machen, denn die Management-Thematik hatte auch den Staat und seine Betriebe erfasst.

3.  Management – oder das finale Paradigma

Hatten die 1980er Jahre die Grenzen der bürokratischen Steuerung deutlich gemacht, so waren die 1990er Jahre eine Zeit des Aufbruchs und des grossen Umbruchs im öffentlichen Sektor der Schweiz. Dass dieses Feld in Bewegung geriet, ist nicht zuletzt dem Einfluss von Management-Konzepten zuzuschreiben. Sie haben mit ihrem finalen Denken einen markanten Paradigmenwechsel in der Staatstheorie und vor allem in der Praxis der politischen Steuerung bewirkt. Der Anspruch der Jurisprudenz auf ein Interpretationsmonopol des Staates als allein rechtlich zu definierender Institution wurde radikal in Frage gestellt. Schliesslich liessen sich die Organisationen des öffentlichen Bereichs ja auch als Zweckverbände zur Erreichung bestimmter Ziele verstehen. Ihre Strukturen und Prozesse konnten genauso gut wie die Unternehmen der Privatwirtschaft hinsichtlich Effizienz und Effektivität beurteilt werden, und Fragen zur Wirtschaftlichkeit drängten sich angesichts wachsender Budgetdefizite geradezu auf. Gleichzeitig hatte sich die junge Politikwissenschaft, von wenigen Ausnahmen (z.B. Germann 1998) abgesehen, von der Erforschung politischer Institutionen eher ab- und der mehr an Inhalten orientierten Analyse von Politikfeldern zugewandt. Das entstandene Vakuum einer institutionell fokussierten Theorie politischer Steuerung konnte die moderne Betriebswirtschaft umso besser ausfüllen, als sie international in den 80er Jahren viel Renommé gewonnen und etwa an der Universität St. Gallen (damals noch HSG) eine allgemeine Führungs- und Steuerungstheorie entwickelt hatte, die in Forschung, Lehre und Praxis immer mehr Einfluss gewann.

Weit wichtiger für den Lauf der Dinge auch im öffentlichen Bereich wurden jedoch die grundlegenden Veränderungen, die sich in der Weltwirtschaft bereits seit den 1970er Jahren abgezeichnet hatten, sich in den 1980er Jahren durchsetzen konnten und seither zu einer signifikanten Machtverlagerung vom Realkapital zum Finanzkapital geführt haben. 1973 war das System fixer Wechselkurse zusammengebrochen; der Devisenhandel entglitt der nationalstaatlichen Kontrolle, was den Finanzmärkten mächtig Auftrieb gab und in der Folge eine beispiellose Welle wirtschaftlicher Deregulierung und Globalisierung auslöste. Immer mehr dominieren seither rein finanzwirtschaftliche Sichtweisen das politische und das wirtschaftliche Geschehen. Der shareholder value, ideologisch verbrämt durch einen seichten Neoliberalismus, wurde zum einzig gültigen Kriterium erfolgreichen Wirtschaftens hochstilisiert.

Im Unterschied zum Ordoliberalismus (oder Neoliberalismus alter Schule), der sich seines politisch gesetzten Rahmens und Begründungszusammenhangs stets bewusst war, leugnete der auf die Interessen des Finanzmarktes fokussierte Neoliberalismus der 1980er und 90er Jahre jede wirtschaftliche Funktion des Staates, der auf Kernaufgaben der inneren und äusseren Sicherheit zurückgestutzt werden sollte. Auf der linken Seite war eine differenzierte Haltung auch nicht gefragt; hier hatte man sich auf etatistische Positionen eingeschworen, die den Status quo verteidigten und keine Dynamik mehr zuliessen. Der politische Dialog um die Staatsfunktion drohte im Autismus der Kontrahenten zu ersticken.

Umso erfreulicher war, dass etwa mit Beginn der Administration Clinton/Gore weltweit eine Diskussion einsetzte, die unter dem Label „New Public Management“ oder „NPM“ (Hood 1991) diese Blockierung zu überwinden versprach. Eine vorerst kleine Gemeinde von Eingeweihten sog die neue Lehre förmlich  in sich auf. Bücher wie Reichards „Betriebswirtschaftslehre der öffentlichen Verwaltung“ (1987) und „Reinventing Government“ der Amerikaner Osborne und Gaebler (1992) erhielten gleichsam Kultstatus, ähnlich wie die Berichte über NPM-Pilotprojekte in Neuseeland und im angelsächsischen Raum, das Tilburger Modell oder später das „Neue Steuerungsmodell“ der deutschen KGSt. Aber NPM blieb in der Schweiz doch schwergewichtig eine Sache aufgeschlossener Chefbeamter und einiger weniger Exekutivpolitiker. Es gelang nicht, die breite Skepsis gegen diese politische Importware zu überwinden, auch wenn man mit dem Label „Wirkungsorientierte Verwaltungsführung WOV“ anzudeuten versuchte, dass es in der Schweiz wohl eher um eine Form der Binnenrationalisierung für die Verwaltung als um neue politische Steuerungsformen für die Gesellschaft gehen würde. Der politischen Rechten gingen die Konzepte zu wenig weit, ja, man argwöhnte hier nicht völlig zu Unrecht, dass effizientere Verwaltungen weit weniger Anlass zum Staatsabbau und zu echter Privatisierung böten, während das Misstrauen gegen jeden Versuch, öffentliche Leistungen wirtschaftlicher zu erbringen, auf der Linken gleichsam zur politischen Korrektheit gehörte.

New Public Management hat sich in der Schweiz aufgrund dieser sehr schmalen politischen Basis nicht wirklich und schon gar nie flächendeckend durchsetzen  können, aber es hat trotzdem erstaunlich viel bewirkt. Die intensive Diskussion, die landauf, landab Führungskurse und Gesprächsforen im öffentlichen Sektor dominierte, löste eine breite Selbstreflexion der Verwaltungskader aus. Sie war Grundlage für ein neues Selbstbewusstsein und schuf die Voraussetzungen für manche Lernschritte, die ohne den Vergleich mit einem neuen Idealtypus und ohne Benchmarks auf dem Weg dorthin nicht möglich gewesen wären. Was die klassische NPM-Führung mit Leistungsaufträgen und Globalbudgets (FLAG) betrifft, so hat der Bund nur einen Teil seiner Ämter diesem Regime unterstellt. Viele Kantone und einige Gemeinden gingen da viel weiter, was bei Institutionen, die näher am Markt und näher beim Bürger agieren, auch eher möglich scheint. Die neue Philosophie kam auf Bundesebene aber in anderer Hinsicht zum Tragen. Die grossen Betriebe, welche Mitte der 90er Jahre von den damals etwa 140 000 Bundesbeamten deren 100 000 beschäftigten, wurden ausgelagert und weitgehend verselbstständigt, sei es als Anstalten mit eigener strategischer Führung und eigener Rechtspersönlichkeit, sei es als spezialgesetzliche, zum Teil an der Börse kotierte Aktiengesellschaften. Wesentlich mehr Autonomie errangen auch das Institut für Geistiges Eigentum IGE, ein NPM-Pilotprojekt der ersten Stunde, und die Eidgenössischen Technischen Hochschulen. Das neue Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz RVOG, das in einer ersten Runde durch die Volksabstimmung fiel, weil die Einführung von Staatssekretären keine Gnade fand, atmet ebenfalls die neue Führungsphilosophie. Es überlässt der Exekutive die Kompetenz zur Organisation der Verwaltung und bildete die Grundlage für die Einführung von NPM. Auch die finanzielle Steuerung ist im Sinne von NPM modernisiert worden; mit dem Neuen Finanzausgleich (NFA) erhielt der horizontale und vertikale Föderalismus zielführende Anreizsysteme, und das immer noch kameralistische Haushaltsrecht des Bundes wurde um Elemente der Doppik ergänzt.

All diese Schritte in Richtung einer modernen Verwaltungsführung wurden unterstützt und begleitet durch den Umbau im Personalrecht und in der Personalpolitik. Die heftig umstrittene Abschaffung des Beamtenstatus machte eine (immer noch öffentlichrechtliche, aber kündbare) Anstellung des Personals auf Vertragsbasis möglich. Damit konnte die hoheitliche Substanz des öffentlichen Arbeitsrechts um kontraktuelle Elemente individuell ergänzt und kreativ erweitert werden. Gleichzeitig fanden sowohl die Führung über Zielvereinbarung als auch eine nach Leistung differenzierbare Lohngestaltung ihre gesetzliche Basis. Schliesslich sollte eine aktive Personal- und Organisationsentwicklung den Staat als Arbeitgeber über moderne Führungspraxis und Employability-Programme attraktiver machen. Nicht mehr die Arbeitsplatzgarantie, sondern Beschäftigungssicherheit auch im institutionellen Wandel dank Entwicklung von Wissen und Können war angesagt.

Gerade auch die neue Personalführung mit Zielvereinbarungen und lohnwirksamer Leistungsbeurteilung hat einen Kulturwandel eingeleitet, der die finale Denkweise und das wirkungsorientierte Handeln unterstützt. Es geht nun nicht mehr in erster Linie darum, nach möglichst detaillierten Vorschriften korrekt zu entscheiden, sondern Ziele zu erreichen und die knappen Mittel auf dem (selbst) gewählten Weg effizient zu verwenden. Professionalisierung im Hinblick auf den Management-Ansatz erfordert ein neues Verständnis von Führung im Wandel, das sich dem double loop learning öffnet. Die Verwaltung musste im Veränderungslernen neue Irritationen zulassen und gleichzeitig nach anschlussfähigen Routinen suchen, die den Umgang mit erhöhter Komplexität erlauben. Nicht zuletzt durch Projektmanagement, das professionell ausgebaut und breit geschult wurde, soll sie zu einer neuen Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit finden. Alle diese Bemühungen versuchen, in neuen Lernformen Praxis und Theorie enger zu verknüpfen, indem die Erfahrungen on the job mit kritischen Reflexionen near the job verbunden worden sind. Die Kombination von Strukturänderungen, die neues Handeln erfordern, mit Bewusstseinsarbeit, die zu neuem Denken und Sprechen ermutigt, hat sich als ein Erfolgsrezept erwiesen. Ohne ihre Identität zu verlieren, hat sich die Schweizer Verwaltung im Zeichen von NPM innert weniger Jahre stärker verändert als früher in Jahrzehnten. Sie ist dabei zielstrebiger, professioneller, beweglicher, offener und selbstreflexiver geworden, was als gute Voraussetzung für ihre weitere Entwicklung bezeichnet werden darf.

4.  Governance – oder das systemische Paradigma

Bei allem Erfolg des Management-Ansatzes im öffentlichen Raum sind in den letzten Jahren auch negative Entwicklungen aufgetreten. Trotz grösserem Verständnis für Finanzierungs- und Wirtschaftlichkeitsfragen ist es manchenorts kaum gelungen, die Budgets nachhaltig zu sanieren, obwohl doch gerade diese Problematik Anlass geboten hatte, Managementmethoden in die Verwaltung einzuführen. Ein wichtiger Grund dafür ist der Ressortegoismus, der mit NPM eher noch zugenommen hat. Jede Abteilung orientiert sich an den eigenen ehrgeizigen Zielen. Es ist wenig Bereitschaft vorhanden, dass Ganze im Auge zu behalten. An Zielen orientierte Führungssysteme neigen zur Fragmentierung, wenn nicht von oben im Sinne einer Integration bewusst Gegensteuer gegeben wird.  Ähnlich verhält es sich mit der Aufblähung von Stäben, die oft nicht die Integration des „Konzerns“ verstärken, sondern umgekehrt seine Ausdifferenzierung beschleunigen und dafür sorgen, dass sich verschiedene Organisationseinheiten gegenseitig beschäftigen. Zudem trägt ein rasch wucherndes Controlling zur Re-Bürokratisierung bei. In Verwaltungen herrscht noch immer eine grosse Angst vor Fehlern, die man im exzessiven Gebrauch aller möglichen „tools“ zu bannen hofft. Die erneut spürbare Absicherungsmentalität hat ihre Ursache auch im Misstrauen zwischen Politik und Verwaltung, das sich eher noch verschärft hat, wofür die Personalisierungs- und Skandalisierungsstrategien der Medien mitverantwortlich sind. Es ist kaum gelungen, die politischen Gremien auf die Erarbeitung strategischer Ziele auszurichten und das operative Führungsgeschäft der Verwaltung zu überlassen. Im öffentlichen Raum bleibt auch der Weg zum Ziel immer ein Politikum.

Solche Fragen weisen über einen Management-Ansatz hinaus und öffnen den Blick auf Governance-Konzepte, wie sie seit wenigen Jahren auch bezüglich der politischen Steuerung diskutiert werden. Die Privatwirtschaft bezeichnet mit „Corporate Governance“ die erneuten Bemühungen um Ethik und Rollenklärung an der Spitze grosser Unternehmungen. Das Gemeinsame mit „Public Governance“ ist die Einsicht, dass gute Steuerung in unübersichtlichem Gelände nicht nur regel- oder zielorientiert sein darf, sondern über Bürokratie und Managerialismus hinaus die Entwicklung des Umfelds und des Gesamtsystems im Auge behalten muss. Diese systemische Ethik mit ihrer Ausrichtung auf Kontexte und Nachhaltigkeit nimmt Abstand vom Machbarkeitswahn der Moderne, dem Neoliberalismus und NPM noch weitgehend verpflichtet sind, und zeigt die Notwendigkeit, aber gleichzeitig auch innovative Möglichkeiten der politischen Steuerung auf.

Was den modernen Staat in dieser systemischen Sicht betrifft, so knüpfen die jüngeren Diskussionen an Überlegungen von Helmut Willke  an, der die Politik schon seit längerem zu mehr Bescheidenheit, aber auch zu mehr Innovation aufruft und dem modernen Staat eine Moderationsrolle zwischen den gesellschaftlichen Funktionssystemen und ihren divergierenden Interessen zuweist. Im Zusammenhang damit gewinnen die Modelle eines «Gewährleistungsstaats» an Bedeutung, der im Gegensatz zum selber nach ökonomischen Prinzipien produzierenden Staat, wie er dem NPM als Ideal vorschwebt, mehr auf der Metaebene agiert und Politik als Kommunikation zwischen verschiedensten Partnern versteht, welche die System- und Sozialintegration als eine gemeinsame Herausforderung begreifen. Auch ökonomische Ansätze entwickeln Verständnis für diese systemische Funktion des modernen Staates. Priddat (2006) rückt die kommunikative Sicht der Politik deshalb ins Zentrum, weil es in politischen Prozessen um „offene“ Verträge geht. Wenn die Wählerinnen und Wähler aufgrund von Absichtserklärungen und Programmen ihre Stimme für eine Partei abgeben, wissen sie noch nicht, in welcher konkreten Konstellation diese Partei später handeln muss. Und politisches Handeln kann nicht nur auf die Umsetzung von Inhalten zielen; es muss immer mit bedenken, dass es gleichzeitig auch neue Machtverhältnisse und Strukturen des politischen Systems produziert oder die alten reproduziert und legitimiert.

Governance stellt neuartige Elemente wie Zivilgesellschaft, Mehrebenenpolitik, Verhandlungssysteme und Netzwerke neben traditionelle staatliche Funktionen. Und Politik findet nun auch jenseits des Staates und der traditionellen Parteien statt, zum Beispiel in sozialen Bewegungen und NGOs. Interessant ist dabei, dass immer noch viele Hoffnungen für unsere Zukunft auf Politik gerichtet sind, obwohl die Politik doch überfordert scheint. Aber es ist keine hoheitliche, autoritäre Form von Politik, die da, oft empört, eingefordert wird. Der Politikbegriff ist bescheidener und gleichzeitig umfassender geworden: Vom politischen Diskurs verlangt man, dass er fast alle gesellschaftlichen Probleme aufgreift, aber von den politischen Institutionen im engeren Sinne erwartet man – wohl zu Recht – kaum mehr, dass sie zu einer Lösung dieser Probleme im Alleingang fähig sind. Zukunftsweisend an dieser neuen Konzeption von Politik ist die systemische, fast etwas spielerische und doch ethische Sicht auf das gesellschaftliche Ganze, verbunden mit einem gesundem Augenmass und selbstkritischer Bescheidenheit, die Staat und Politik vor naiver Überschätzung ihrer beschränkten Steuerungsfähigkeiten bewahren. Das politische System – so lautet die Quintessenz – kann allein nicht reüssieren; nur wenn Politik als Kommunikation verstanden wird und in der Zivilgesellschaft fest verankert ist, kann sie die heutigen Probleme vernünftig angehen. Damit liefern Governance-Konzepte einen wichtigen Beitrag zur Steuerungstheorie einer „zweiten, reflexiven Moderne“ (Ulrich Beck), die sich ihrer selbst produzierten Risiken langsam bewusst wird und eine „reflexive Modernisierung des Staates“ (Grande 2008) anstrebt.

In der Schweiz beschränkt sich die Governance-Diskussion weitgehend auf die Steuerungsprobleme von Unternehmen der Wirtschaft. Das Bundesparlament behandelte im Herbst 2007 zwar einen Corporate-Governance-Bericht der Exekutive, aber auch hier steht die wirtschaftliche Steuerung von ausgelagerten Betrieben im Vordergrund. Um Ordnung zu schaffen im Wildwuchs der Managementexperimente  aus den 90er Jahren soll klar unterschieden werden zwischen privatwirtschaftlich zu führenden Unternehmen am Markt einerseits und Anstalten mit Monopol oder mit Aufsichtsfunktion anderseits, die wieder stärker an die öffentlichrechtliche Kandare zu nehmen seien. Damit bleiben die Chancen ungenutzt, die sich gerade an der Schnittstelle von öffentlichem und privatem Recht und am Widerspruch zwischen konditionaler und zielorientierter Führung für die kommunikative Sichtweise moderner Politik auftun.

5.  Verwaltungsführung als kultureller Lernprozess

Bürokratie, Management und Governance als Konzepte politischer Steuerung sind auch unterschiedliche Paradigmen der Verwaltungsführung. Um das Repertoire staatlichen Handelns zu erweitern, sollte man sie künftig geschickt miteinander kombinieren. Verwaltungen müssen lernen, in welchen Handlungsfeldern und unter welchen Umständen bürokratisch-autoritär, ziel- und ressourcenorientiert oder kooperativ-kommunikativ geführt werden muss. Der Staat wird weiterhin oder wieder vermehrt Sicherheits- und Polizeifunktionen wahrnehmen müssen, wo die Einhaltung detaillierter Vorschriften lebensnotwendig ist. In Infrastrukturbereichen steht eher eine effiziente Leistungserbringung im Vordergrund. Aber wenn es darum geht, die Politik in der Systemgestaltung kompetent zu unterstützen, ist auch in der Verwaltung die Fähigkeit systemischer Moderation gefragt. Legalitätsprinzip, Wirtschaftlichkeit und Partizipation sind keine prinzipiellen Gegensätze. Aber Bürokratie, Management und Governance stellen unterschiedliche Ansprüche an die Professionalisierung und bieten unterschiedliche Chancen und Notwendigkeiten des Lernens. Sie fokussieren je andere Methoden der Politikformulierung und lassen sich dabei von jenen wissenschaftlichen Disziplinen leiten, deren akademisches Rüstzeug die jeweils bevorzugte Konstruktion politischer Wirklichkeit am besten zu rationalisieren vermag. Während beim bürokratischen Modell das öffentliche Recht im Zentrum stand und (individuelles, binäres) Anpassungslernen erforderte, ging die Vorherrschaft in der Management-Ära an die Betriebswirtschaft verloren, die stärker auf Trial and Error im (organisationalen) Veränderungslernen setzt. Mit dem Governance-Konzept, das auf sozietales und damit systemisches Lernen zielt, sind zusätzlich noch ganz andere Disziplinen und Qualifikationen gefragt. Die Steuerung hochkomplexer, dynamischer Systeme erfordert Erfahrung im Umgang mit nichttrivialen Situationen und Empathie für eigensinnige Partner. Es geht um dialektische (Lern-)Prozesse, um sokratische Mäeutik (wer fragt, führt!) und um gemeinsames Generieren von Sinn als wichtigster Voraussetzung für erfolgreiche Kooperation. Dazu braucht es viel interdisziplinäres Wissen und soziale, oft interkulturelle Kompetenz, didaktisches Flair sowohl auf der operativen und zugleich auf der Metaebene, persönliche Flexibilität und Stärke im Umgang mit Widersprüchen sowie die Fähigkeit zur kritischen (Selbst-)Reflexion.

Bürokratie – Management – Governance (Phasen-/Schichtenmodell)

Phase/Schicht Kern Umfeld (Lern-)Verhalten
Governance
(seit ca. 2000) Systemische Sichtweise
Kultur
Kommunikation
Sinn
Wissen/Einsicht Vertrauen
Netzwerke
Verhandlungs-systeme
Citizenship
Partizipation
Moderation
Mediation   (Sozietales)
Metalernen
Portfoliomanagement
Management
(1980er und 1990er Jahre) Finale Sichtweise
Strategie
Ökonomie
Ziel
Geld/Vertrag
Märkte
Kunden
Klienten
Mitunternehmer (Organisationales)
Veränderungs-
lernen
Projekte, Controlling
Bürokratie
(bis Mitte der 1980er Jahre) Konditionale Sichtweise
Struktur
(öff.) Recht
Regel
Macht/Befehl
Hierarchie
Untertanen
Rechtsunter-
worfene
Beamtentum (Individuelles)
Anpassungslernen
Stab/Linien-Organi-sation, Kontrolle

Hablützel Consulting Bern                                                                                  01.07.2006/14.10.2008

Die immer komplexeren Aufgaben des Staates erfordern ein Führungsparadigma, das einen erfolgreichen Umgang mit Expertenkulturen ermöglicht. Moderne Verwaltungen sind mehr und mehr Expertenorganisationen, die über ein hoch differenziertes, spezialisiertes Wissen und Können verfügen. Als Organisation akkumulieren sie weit mehr Expertise, als an einer hierarchischen Spitze je konzentrierbar wäre. Deshalb können Verwaltungen ihr Potenzial nur dann voll zur Entfaltung bringen, wenn ihre Mitarbeitenden sich einem inneren Auftrag, einem fachlichen Ethos und einer politischen Moral verpflichtet fühlen. Intrinsische Motivation, die Freude am Wissen, die Begeisterung für das Können, der Wille zur eigenen Perfektion, also qualitätsbewusste Selbstführung ist das wichtigste Kapital von Expertenorganisationen. Und Experten sind Menschen. Auch sie brauchen Wertschätzung, wenn von ihnen Wertschöpfung erwartet wird.

Moderne Verwaltungen können nicht wie traditionelle Produktionsbetriebe top down geführt werden, wenn die spezifischen Stärken einer Expertenkultur erhalten bleiben sollen. Kultur ist die kommunikative Schnittstelle zwischen Individuen, Gruppen und Organisation. Sie liefert jene Praktiken und Sinnangebote, die eine Integration in die Organisation erlauben und damit Identität und Handlungsfähigkeit auch im Wandel sicherstellen. Organisationaler Wandel basiert auf Lernprozessen. Neue Denk- und Verhaltensmuster lösen alte ab und etablieren sich erst dann, wenn gemeinsam anders gehandelt und darüber auch gesprochen wird. Das braucht viel Vertrauen, kommunikatives Geschick und einen langen Atem. Führen und Lernen sind eng verzahnt. Wer in modernen Führungsprozessen letztlich die Lernenden und wer die Lehrenden sind, lässt sich nicht genau unterscheiden.

Der Erfolg von Führung misst sich künftig nicht nur am kurzfristigen Ergebnis zielorientierter Lernprozesse, sondern auch an der nachhaltigen Lernfähigkeit, vor allem an der Lernfähigkeit ganzer Systeme. Kaum dass sich die Verwaltungen im Zeichen von New Public Management wirkungsorientiert an Zielen auszurichten beginnen (double loop learning), was im politischen Umfeld nicht immer einfach ist, müssen sie sich nun auch mit der Steuerung ihrer eigenen Lernprozesse befassen (deutero learning). Diese Aufgabe stellt sich gleichsam auf der Metaebene. Sie ist weder allein an der hierarchischen Spitze noch im eingeübten Top-down-Verfahren lösbar. Die Lernfähigkeit wissensbasierter Systeme ist von der Selbststeuerungs- und Vernetzungsfähigkeit aller ihrer Systemelemente abhängig. Gute Führung aktiviert deshalb die Selbstführung und die Selbstorganisation im ganzen System. Sie fördert die Eigenverantwortung und das Selbstvertrauen bis an die Basis der Wertschöpfungsprozesse und sorgt dafür, dass die individuelle Lernfähigkeit nicht in kollektiver, institutioneller Dummheit erstickt. Organisationale Lernfähigkeit kann sich nur in Kulturen entwickeln, die Irritationen zulassen und Möglichkeiten zur kritischen Selbstreflexion anbieten. Das gleichsam „Unbewusste“ muss – wie auch das Neue und Fremde – beobachtbar und diskutierbar werden. Organisationen sollten sich immer wieder neu in Frage stellen, indem sie sich selber neue Fragen stellen. Diesen Prozess kritischer Selbstreflexion in Gang zu bringen und in Gang zu halten, um damit Identität auch im Wandel zu ermöglichen, ist die Kernaufgabe einer modernen kulturbewussten Führung.

Weiterführende Literatur

Benz, A. (2004), (Hrsg.). Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, Wiesbaden: VS

Bovaird, T. und E. Löffler (2003), (Hrsg.). Public Management and Governance, London: Routledge

Eidgenössische Finanzverwaltung (2006). Erläuternder Bericht zum Corporate-Governance-Bericht des Bundesrates. Bern: EDMZ

Eidgenössisches Personalamt (1999), (Hrsg.). Organisationales Lernen in der Verwaltung. Schriftenreihe des  EPA 10/11. 2. erweiterte Aufl. Bern: EDMZ

Eidgenössisches Personalamt (2000), (Hrsg.): Staatsfunktionen neu denken. Schriftenreihe des EPA 12. Bern: EDMZ

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Dieser Artikel wird erscheinen in Ladner, Andreas u.a., Hg. (2013): Handbuch der öffentlichen Verwaltung der Schweiz. Zürich: NZZ

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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