Finanzkrise: Herausforderung und Chance für die Schweiz
Autorin/Autor: Peter Habluetzel
Die Finanzkrise 2007-2009 hat die Schweiz erschüttert. Unser Land mit seiner überdimensionierten und hochkonzentrierten Finanzindustrie ist zunehmend von globalisierten Märkten abhängig. In der Krise erweisen sich Grossbanken als ein Klumpenrisiko. Sind sie das Rückgrat oder eher die Achillesferse der Schweizer Wirtschaft? Mit Casinospielen hat die UBS Staat und Steuerzahler belastet und mit kriminellen Machenschaften gar das Bankgeheimnis zu Fall gebracht. Und immer mehr entsteht der Eindruck, Politik und Staatsapparat liessen sich von den Grossbanken instrumentalisieren.
Haben wir die Finanzkrise wirklich schon überwunden? Oder setzt sich die Krise der Banken nun in einer Verschuldungskrise der Staaten fort? Krisen verunsichern, weil sie unsere Orientierungsmuster in Frage stellen. Doch Krisen können auch Chancen sein. Man muss sie allerdings produktiv zu nutzen verstehen.
Haben wir die Finanzkrise bereits überwunden?
Die jüngste Krise auf den Finanzmärkten scheint etwas abgeklungen. Obwohl ihre Grossbanken massive Verluste hinnehmen mussten, ist die Schweiz noch einmal glimpflich davongekommen. Bank- und Versicherungsinstitute mussten hierzulande keine verstaatlicht werden. Nationalbank und Bund haben in der Bankenkrise sehr professionell agiert. Eine Fiskalkrise ist uns bisher erspart geblieben. Binnenkonsum, flexibler Arbeitsmarkt und innovative Exportindustrie, die ihren Fokus in Richtung Asien, Konsumgüter und teurere Qualitätsprodukte zu verschieben verstand, haben den Konjunktureinbruch in engen Grenzen gehalten. Die Wirtschaft befindet sich schon wieder in der Gewinnzone. Die 300 reichsten Personen in der Schweiz haben 2010 nach zwei mageren Jahren 21 Mrd. Franken zugelegt. Auch die Grossbanken konnten erneut in profitable Geschäfte einsteigen. Wenn die Frankenaufwertung infolge der Eurokrise dem Werkplatz Schweiz nicht grosse Sorgen bereiten würde, wäre die Lage wohl in manchem mit jener vor der Krise vergleichbar.
Und doch: Die Krise hat vieles verändert. Im Sommer 2007 sah die Finanz- und Wirtschaftswelt wesentlich solider aus. Kaum jemand hätte damals einen Einbruch von solch historischem Ausmass erwartet. Heute aber müssen wir auf alles gefasst sein. Die Spekulationsblase auf dem amerikanischen Immobilienmarkt scheint in Europa ihre Fortsetzung zu finden. Die Schuldenkrise Griechenlands und Irlands sowie die Verschuldung in Portugal, Spanien und Italien bedrohen den Euroraum. Um ihre spekulativ investierten Banken zu schützen, stützen Deutschland, Frankreich und Grossbritannien zusammen mit Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds die angeschlagenen Staaten mit einem Rettungsschirm von 750 Mrd. Euro. Doch an den Finanzmärkten bleiben die Risikoprämien für entsprechende Anleihen hoch, was zeigt, dass sie der Rettungsaktion nicht trauen. Dominoeffekte könnten zum Flächenbrand führen, was den Rettungsschirm überfordern und den Gläubigern massive Verluste bringen würde. Die Schweiz verhält sich in diesem gefährlichen Schlamassel wie eine Trittbrettfahrerin; ihre Banken hangen überall mit drin, und über die Grossbanken auch Staat und Steuerzahler, wie wir aus den Too- Big-to-Fail-Diskussionen lernen mussten.
Die Erfahrungen der Krise haben unsere Sicht auf die Wirtschaftswelt verändert. Manches erscheint uns heute brüchiger. Probleme treten hervor, die wir vorher verdrängten. Die Finanzkrise verlangt nach neuen Antworten, wo wir bisher nicht einmal ernsthaft Fragen stellten. Das betrifft auch die Funktion des Finanzplatzes Schweiz. Wenn der Nationalbankpräsident öffentlich verkündet, das Geschäftsmodell unserer Grossbanken habe sich nicht bewährt, es sei nur für Manager und Bezüger hoher Boni attraktiv, den Eigentümern habe es über die letzten 15 Jahre massive Verluste beschert und die Steuerzahler könnten erneut zur Kasse gebeten werden, dann müsste die Zeit zum Umdenken eigentlich reif sein.
Der Aufstieg des Finanzplatzes zur nationalen Ikone
Ein florierender Finanzplatz galt bisher gleichsam als die materielle Inkarnation der schweizerischen Identität. Kein anderes Land hat verhältnismässig einen so grossen Finanzsektor und ist global so hoch investiert wie die Schweiz. Nirgendwo ist die Konzentration der Finanzindustrie weiter fortgeschritten. Bis zur Krise hielten die beiden Grossbanken UBS und CS beinahe 90 Prozent der Bilanzsummen aller Banken der Schweiz, was dem achtfachen Betrag des Bruttoinlandprodukts (BIP) entsprach. Auch nach der Krise betragen die Bilanzen der beiden Institute immer noch beinahe das Fünffache unseres BIP. Zum Vergleich: die Bilanzsumme aller amerikanischen Banken zusammen ist etwa gleich gross wie das BIP der USA. Der „Sonderfall“ Schweiz besteht nicht zuletzt in der Abhängigkeit des Landes von den Interessen einer global orientierten Wirtschaft.
Das ist an sich nichts Neues. Die Offenheit der Schweizer Ökonomie ist geografisch eine Notwendigkeit und basiert auf den Erfahrungen von Jahrhunderten. Die kleine Schweiz hat das grosse Geld immer schon im Geschäft mit dem Ausland gemacht. Vom Passhandel seit dem Mittelalter über den Menschenhandel der Reisläuferei und den Sklavenhandel bis hin zum rasanten Aufstieg von Handelshäusern, Tourismus und Industrie im 19. Jahrhundert war wirtschaftlicher Erfolg hierzulande stets stark vom Austausch mit dem Ausland abhängig. Die fleissig akkumulierten Vermögen, die ihren herrschaftlichen Ausdruck einst in schönen Patrizierhäusern gefunden haben und heute gerne mit protzigen Villen am Zürich-, Zuger- und Genfersee zur Schau gestellt werden, sind selten unseren kargen Böden mit ihren bescheidenen Erträgen abgerungen worden.
Den Schweizern wird traditionell ein speziell enges Verhältnis zum Geld nachgesagt: «Pas d’argent, pas de Suisse!» behauptet ein altes Sprichwort wohl nicht zu Unrecht. Der Aufstieg der schweizerischen Finanzwirtschaft zu internationaler Bedeutung ist historisch aber eine relativ späte Erscheinung. Noch bis vor hundert Jahren waren die Bankplätze der Schweiz kaum mehr als Satelliten des französischen Marktes. Emissionen sowie Import-/Export-Finanzierungen wurden hauptsächlich über Paris abgewickelt, und noch während des Ersten Weltkriegs waren in der Schweiz mehr französische Francs im Umlauf als Schweizer Franken. Ein international gewichtiger Finanzplatz brauchte (1.) einen rechtlichen Rahmen, staatlichen Schutz sowie währungs- und geldpolitische Stabilität, um die Erwartungssicherheit der privaten Wirtschaft zu erhöhen; (2.) ein kräftiges Wirtschaftswachstum, verbunden mit einem Konzentrationsprozess, um Grossbanken als hochprofessionelle Player entstehen zu lassen; und (3.) eine enge Verflechtung mit andern Volkswirtschaften, ohne die der Finanzsektor eines kleinen Landes kaum lukrative Expansionschancen hätte. Diese Bedingungen waren im Wesentlichen erst seit den späten 1960er Jahren erfüllt.
Mitte des 20. Jahrhunderts generierten die Grossbanken lediglich ein Viertel der Bankumsätze in der Schweiz; noch war die Finanzwirtschaft überwiegend kantonal oder lokal fokussiert. Erst im letzten Drittel des Jahrhunderts setzte ein Wachstum mit oft zweistelligen Raten ein, das vor allem einer Expansion des Auslandgeschäfts zu verdanken war und in erster Linie den Grossbanken zugutekam. Soziale und politische Stabilität sowie der starke Franken machten die Schweiz zum sicheren Hafen für anlagesuchendes Kapital. Das rigorose Bankgeheimnis zog auch unversteuerte und kriminelle Gelder an. Nach den 1977 ruchbar gewordenen illegalen Transaktionen durch die Filiale Chiasso der SKA lancierten die SPS eine Volksinitiative zur Lockerung des Bankgeheimnisses, um Steuerhinterziehung und Hortung von Fluchtgeldern zu bekämpfen. Die Stimmung im Land war damals den Banken gegenüber sehr kritisch. Doch die Finanzwirtschaft reagierte geschickt mit einer «Vereinbarung über die Sorgfaltspflicht der Banken bei der Entgegennahme von Geldern», und es gelang ihr mit einer millionenschweren Propaganda, das ernsthaft angeschlagene Image wieder so aufzupolieren, dass die Bankeninitiative in der Volksabstimmung 1984 deutlich auf der Strecke blieb. Das Bankgeheimnis war damit für Jahre weg von der politischen Traktandenliste. Die Grossbanken hatten eine Art kultureller Hegemonie errungen, gegen die selbst Publizisten wie Jean Ziegler lange vergeblich anschrieben.
Das Schicksal der Bankeninitiative illustriert exemplarisch den wachsenden Einfluss der Grossbanken auf öffentliche Meinung und Politik in der Schweiz. Wirtschaftlich basierte ihr Erfolg auf der Verknüpfung von Retail- und Kommerzgeschäft. Mit preisgünstigen Publikumsgeldern finanzierten sie den raschen Aufschwung der Exportindustrie und die Modernisierung der Schweizer Wirtschaft. Aus den hohen Gewinnen sponserten die Grossbanken Sport, Kunst, Kultur und Politik. Sie galten neben der Swissair als Vorzeigefirmen und fortschrittlichste Arbeitgeber und wirkten bei der Einführung der EDV als Pioniere. Über das Milizsystems in Politik und Militär konnten sie auch gesellschaftlich stark Einfluss nehmen. Von der Bankgesellschaft hiess es, nur Offiziere der Schweizer Armee könnten ins Kader aufsteigen, und als Mitglied der Geschäftsleitung müsse man Oberst im Generalstab sein.
Bis in die 1980er Jahre blieb der Finanzplatz an den Interessen der Schweizer Industrie orientiert. Er finanzierte ihre Investitionen und Exporte, optimierte ihre Kosten und Erträge und versicherte ihre Risiken. Nach dem Konjunkturbruch 1974/75 wurde der Wettbewerb wesentlich härter. Viele Unternehmen durchliefen radikale Umstrukturierungen und liessen sich dabei mehr oder weniger freiwillig von den mächtigen Grossbanken begleiten, die in fast allen wichtigen Verwaltungsräten Einsitz nahmen. In diesen Jahren blühte das «old boys’ network»; man kannte sich recht gut auf den Teppichetagen, wo der Markt mit Kartellabsprachen in geordnete Bahnen gelenkt werden konnte. Nicht die kurzfristigen Gewinne am Markt, sondern die langfristig produktiven Investitionen standen im Vordergrund. Insidergeschäfte waren damals noch nicht verpönt und dienten zur Aufbesserung der keineswegs exorbitanten Managementgehälter. Erst 1989/90 wurden die Schweizer Banken aufgrund einer Intervention der Kartellkommission gezwungen, ihr Zinskartell und andere den Wettbewerb behindernde Absprachen aufzuheben.
Der hohen Sparquote entsprechend, wies die Schweiz sehr lange eine sehr hohe Bankendichte auf. Nachdem die Luft aus einer (in der Schweiz hausgemachten) Immobilienblase entwichen war, kam es in den frühen 1990er Jahren zu einer Bankenkrise mit Gesamtverlusten von gut 50 Milliarden Franken. Des Kartellschutzes entblösst und rauerem Wettbewerb ausgesetzt, hatten darunter vor allem kleinere Institute (wie die Spar- und Leihkasse in Thun) zu leiden. Das Erbe beim grossen Bankensterben traten die Grossbanken an, die eigene Verluste mit wachsenden Gewinnen aus dem Auslandgeschäft kompensieren konnten. Gleichzeitig vollzog sich eine Flurbereinigung unter den fünf noch bestehenden Grossbanken, aus der UBS und CS als den Schweizer Markt völlig beherrschende, auf dem Weltmarkt konkurrenzfähige Universalbanken hervorgingen.
Die Fusionen wurden damals inszeniert, als wären sie Entscheidungen aus der Stärke heraus. Heute wissen wir, dass zum Beispiel der Bankverein auf eine Fusion mit der besser kapitalisierten Bankgesellschaft dringend angewiesen war, weil seine Eigenkapitaldecke durch die Einkaufstour in angelsächsischen Gefilden knapp geworden war. Viele Engagements im bankfremden Versicherungsgeschäft und im Ausland erwiesen sich mittel- und längerfristig als Flops, weil das entsprechende Know-how fehlte, unterschiedliche Kulturen sich nicht vertrugen oder die Führung so komplexer Gebilde zu schwierig geworden war. Die überzahlten Akquisitionen schwächten die Giganten, aber in den 90er Jahren war Kritik am Trend zur Grösse tabu. Erfolg auf dem Weltmarkt könnten nur die ganz Grossen haben, so war man in der Branche überzeugt und davon liessen sich auch Behörden und Öffentlichkeit überzeugen. Die Gefahr eines Klumpenrisikos durch die besondere Struktur und Auslandverflechtung unseres Finanzplatzes hat man lange nicht wahrhaben wollen. Die Bankenkommission gestand UBS und CS gar einen höheren Verschuldungsgrad zu als allen andern Banken. Politik und Regulator waren in eine fatale Nähe zu den beiden mächtigen Klienten geraten.
Globalisierung von Märkten und Mentalitäten
Der Aufstieg des Finanzplatzes Schweiz dank expandierendem Auslandgeschäft ist Ausdruck einer globalen Entwicklung. Im Rückblick erscheint der Übergang zum Floating in den frühen 70er Jahren als Fanal für eine Transformation der modernen Geldwirtschaft: Jetzt wurden auch nationale Währungen frei handelbar. Dadurch entglitt der Devisenmarkt der nationalstaatlichen Kontrolle, was der Finanzwirtschaft mächtig Auftrieb gab. In der Folge lösten die Liberalisierung der Kapitalmärkte und weitere Deregulierungen eine beispiellose Globalisierungswelle aus. Im Schweizer Finanzsektor vollzog sich der Globalisierungsschub – auch mentalitätsmässig – erst in den 90er Jahren, parallel zum Konzentrationsprozess. Es war eine turbulente Zeit wirtschaftlicher Umstrukturierungen nach einer Wachstumsschwäche, die durch die verfehlte Geldpolitik der Nationalbank noch verlängert und vertieft worden war. Der hohe Frankenkurs lenkte die schweizerischen Investitionen vermehrt ins Ausland und bescherte der Schweiz eine rasche Deindustrialisierung, der auch traditionsreiche Grosskonzerne wie Sulzer zum Opfer fielen. Die Grossbanken lösten sich von ihrer bisherigen Rolle als Stützen der nationalen Industrie und begannen, ihre riskanten Gewinnspiele nach den globalen Regeln der Kunst zu perfektionieren.
Globalisierte Finanzmärkte lenken das (Spar-)Kapital dorthin, wo es am meisten Profit verspricht. Seit den 90er Jahren ist deutlich geworden, wie radikal sich der Fokus der ganzen Wirtschaft von Fragen der Produktion auf Finanzierungsfragen verschoben hat. Das unternehmerische Paradigma, wie es Schumpeter beschrieb, hat an Bedeutung verloren: Es geht nicht mehr darum, Produktionsideen industriell umzusetzen und über den Kundennutzen Gewinn und Arbeitsplätze zu sichern. Der Shareholder-Value, der Kapitalgewinn, wird zum Selbstzweck und zum Ziel allen Wirtschaftens erklärt. Die Manager müssen ihre Entscheide auf die Wertsteigerung der Aktien ausrichten, und materielle Anreize sollen sie entsprechend motivieren.
Im hohen Stellenwert des finanziellen Erfolgs spiegelt sich auch, dass fast die ganze Bevölkerung an der Börse investiert ist, zumindest über die berufliche Vorsorge, die auf hohe Kapitalgewinne angewiesen ist, wenn sie ihre Versprechungen erfüllen will. Die rein finanzielle Sichtweise bewirkt eine immer kurzfristigere Orientierung des Managements und der Aktionäre, was eine weitsichtige Unternehmensführung und den Aufbau von Potenzial für die Zukunft erschwert. Oft werden die erwirtschafteten Erträge in den profitabler erscheinenden Finanzsektor statt in die Realwirtschaft re-investiert, und viele Industriefirmen orientieren sich in ihren zentralen Entscheiden längst am Finanzmarkt, nicht mehr am langfristigen Kundennutzen. Damit liefert sich die Wirtschaft der kurzfristigen, spekulativen Logik der Börsen und ihrer Analysten aus. Märchenhafte Gewinne sind so möglich, wenn innere Werte rasch aktiviert und ausgeschlachtet werden. Aber oft können auch über Jahrzehnte erarbeitete reale Werte mit einem Federstrich zunichte gemacht werden, wenn die Kapitaleigner andernorts lukrativere Gewinnmöglichkeiten vermuten.
Der Finanzsektor hat sich immer stärker spezialisiert und von der Realwirtschaft abgekoppelt. Er ist mit kaum noch durchschaubaren Produkten zur «Finanzindustrie» geworden, ein Begriff, den man früher bezeichnenderweise nicht kannte, der aber gut zum Ausdruck bringt, dass die einst für Wirtschaft und Gesellschaft «Dienst»-leistende Branche sich heute als eine (virtuell) selber produzierende „Industrie“ versteht. Was bei der Produktion dieser Branche als Wertschöpfung gelten darf und was eher als «Wertabschöpfung» bezeichnet werden müsste, bleibe dahingestellt. Jedenfalls waren aus den (bank-)eigenen Geschäften mit Finanzen bald grössere Gewinne herauszuholen als mit der Finanzierung fremder Geschäfte. Das Geld der Kunden wurde immer mehr zum Hebel, um mit wenig Eigenkapital (und deshalb auch mit relativ wenig eigenem Risiko) grosse (Spekulations-)Gewinne zu erzielen. Das Fristentransformations- und Zinsdifferenzgeschäft, also das Sammeln von relativ billigen und kurzfristigen Sparguthaben zu längerfristig investierbarem und deshalb teurerem Kapital, sowie die Vermögensverwaltung und andere Aktivitäten des traditionellen Banking florierten zwar weiterhin, aber sie verloren an Bedeutung und Ansehen gegenüber dem Investmentbanking, das mit Börsengängen, Fusionen und Restrukturierungen von international tätigen Grossfirmen und mit Spekulationen auf eigene Rechnung wesentlich mehr Gewinn versprach.
Vom Erfolg verwöhnt, fühlten sich viele Banker als «Masters of the Universe» und entwickelten eine Arroganz, die immer mehr auch in exorbitanten Löhnen und Boni zum Ausdruck kam. Die Masslosigkeit entsprang vielleicht weniger einer (Konsum-) Gier als vielmehr dem Selbstverständnis einer neu sich bildenden Elite, dass die Harten, Tüchtigen und Erfolgreichen Anspruch auf ihren Teil an der eingebrachten Beute hätten und dass in gestiegenen Geldwerten eben das Mass ihrer Tüchtigkeit und Potenz zum Ausdruck komme. Ethnologen würden in der Unternehmenskultur der Finanzindustrie Elemente männerbündischen Jagdverhaltens erkennen können.
Die Amerikanisierung der Schweizer Banken schritt seit den 90er Jahren mächtig voran, während die traditionelle Moral öfter auf der Strecke blieb. Unter dem Diktat quantifizierbarer Ergebnisse und gewinnabhängiger Anreizsysteme, mutierten manche Kundenberater zu Verkäufern angeblich topsicherer Finanzprodukte, die den vertrauensseligen Anlegern regelrecht aufgeschwatzt wurden. Nach der Lehman-Brothers-Pleite 2008 galt dann doch das Kleingedruckte, und viele Banken lehnten jegliche Verantwortung für Verluste ab. Während sich in der Realwirtschaft eher eine «Garantiekultur» etabliert hat, bei der Produzenten und Händler für fast alle Schäden haften, entwickelt sich in der Finanzwirtschaft zunehmend eine «Täuschungskultur» (Strahm), die darauf abzielt, Risiken und Haftung voll auf den Kunden abzuwälzen. Solche Praktiken wider Treu und Glauben hätte man sich im Bankgewerbe früher kaum vorstellen können.
Wohl am deutlichsten kommt der Kulturwandel der Finanzelite in ihrem Verhältnis zu Politik und Militär zum Ausdruck. Die Banker haben sich seit den 1990er Jahren von nationalen Einbindungen (politische Parteien, Offizierskorps etc.) radikal abgekoppelt und stark amerikanisiert. Gegenüber der Politik wurde gar eine gewisse Verachtung spürbar. Mit Weissbüchern und andern Belehrungen gab man den Politikern von oben herab den neoliberalen Tarif bekannt, ohne sich ernsthaft auf einen Diskurs einzulassen. Den Gipfel der Arroganz erklomm im Herbst 2001 UBS-Chef Ospel, als es darum ging, die Swissair in letzter Minute doch noch vor einem Grounding zu retten. Bundesrat Villiger versuchte, Ospel telefonisch zu erreichen, aber dieser verweigerte dem Finanzminister das Gespräch.
Die Globalisierung hat die Einflussmöglichkeiten der Staaten auf die Wirtschaft arg beschnitten. Diese Problematik prägt auch die Bankenaufsicht. 1998 forderte eine Motion Strahm (SP, BE) vom Bundesrat, den global tätigen Banken zur Absicherung systemischer Risiken höhere Eigenmittel vorzuschreiben. Doch es geschah nicht eben viel, und noch 2006 begründete die Regierung ihre Untätigkeit damit, dass die Vorschriften der Eidg. Bankenkommission (EBK) den internationalen Empfehlungen von Basel genügen würden und deshalb als Risikoabsicherung ausreichen müssten. Dass eine kleine Volkswirtschaft mit sehr grossen Banken einem speziellen Risiko ausgesetzt ist, wollten die Behörden nicht zur Kenntnis nehmen. Die EBK hat ihren Interpretationsspielraum auf eine gefährliche Art zugunsten kurzfristiger Interessen der Finanzindustrie ausgenutzt. In grosszügiger Auslegung der Basler Empfehlungen und trotz massiver Vorhaltungen seitens der Nationalbank segnete sie 2004 neue Risikomodelle und Berechnungen der UBS ab, so dass sich die Grossbank für ihre riskanten Geschäfte auf dem amerikanischen Markt noch stärker verschulden konnte und mit der weltweit (!) tiefsten Eigenmittelquote von weniger als zwei Prozent in die Finanzmarktkrise schlitterte. Diese politische Unterstützung im Standortwettbewerb hat sich als Bumerang erwiesen. Die Milliardenverluste auf dem Finanzplatz Schweiz haben wir neben verantwortungslosem Verhalten vieler Banker und der Gewinngier in der Gesellschaft auch einer fahrlässigen und willfährigen Risikobeurteilung durch EBK und Finanzdepartement zu verdanken.
Die doppelte Krise der Schweizer Finanzmarktpolitik
Die Finanzkrise demontiert nicht nur die Allmachtsfantasien unserer Finanzindustrie. Sie demaskiert auch unser politisches System. Sie demonstriert, wie servil sich die Behörden gegenüber wirtschaftlichen Grossinteressen verhalten. Zwei Ereignisse werden diesbezüglich noch lange im Gedächtnis haften bleiben: Im Oktober 2008 mussten Bund und Nationalbank mit einer massiven Finanzspritze der grössten Bank zu Hilfe eilen, die sich mit einer verfehlten Geschäftspolitik an den Rand des Abgrunds manövriert hatte. Und im Februar 2009 verletzten Schweizer Behörden schweizerisches Recht, um dieses Flaggschiff unseres Finanzplatzes aus den Fängen der US-Justiz zu befreien, in die es aufgrund mutwilliger Verstösse gegen amerikanische Gesetze geraten war.
Auf die Intervention zugunsten der illiquiden UBS hatten sich die Behörden in aller Stille gut vorbereitet. Die Rettungsaktion vom Oktober 2008 ist finanztechnisch eine brillante Arbeit; der Bund ist mit Gewinn wieder ausgestiegen und die SNB kann immer noch auf eine vollständige Rückzahlung ihres Kredites hoffen. Aber politisch ist das Paket eine Zumutung. Wie kann man eine Grossbank mit einer gigantischen Summe an Steuergeldern retten, ohne sie in die Pflicht zu nehmen, ihr klare Auflagen zu machen und ihr Geschäftsgebaren zu kontrollieren? Verdient eine Unternehmung mit einer Entwicklung wie die UBS so viel blindes Vertrauen? Staatshilfe sollte nicht attraktiv sein. Wir sind ja auch nicht der Meinung, dass die vom Staat unterstützten Individuen in Saus und Braus leben sollen.
Doch gerade in dieser heiklen Frage scheinen nicht nur die Banker, sondern auch manche Schweizer Politiker die Bodenhaftung verloren zu haben. In krassem Gegensatz zu vielen andern Ländern macht die Schweiz einer Bank, die nur noch an Staatskrücken gehen kann, keine strengeren Auflagen in Bezug auf Dividenden und Entgelte. Die Steuerzahler müssen so mithelfen, Löhne und Boni zu finanzieren, von denen sie selber nur träumen können. Menschen, die um ihr Sparguthaben, ihre Altersvorsorge und – wo die Krise auf die Realwirtschaft durchschlägt – auch um ihren Arbeitsplatz fürchten, werden das nicht verstehen. Viele ärgern sich über die Exzesse der Finanzindustrie, über deren fahrlässigen bis mutwilligen Umgang mit Risiken. Und was manche mit Zorn erfüllt, ist die Arroganz vieler Banker, ihre Unlust oder Unfähigkeit, aus Krisen zu lernen. Angst, Ärger und Zorn sind Ausdruck eines gesunden Empfindens; mit „Neidökonomie“ (NZZ) haben sie wenig zu tun.
Angst, Ärger und Zorn verspüren die Menschen auch in andern Ländern Europas und namentlich in den USA. Doch während Obama, Brown, Merkel, Sarkosy und viele weitere Spitzenpolitiker den Ärger ihrer Bevölkerung teilen und alles tun, um Finanzwirtschaft und masslose Banker in die Schranken zu weisen, wird unsere Regierung es nicht müde, die überrissene, staatlich subventionierte Lohnpolitik der UBS und andere fragwürdige Machenschaften auf dem Schweizer Finanzplatz zu verteidigen. Selbst Spenden an politische Parteien darf die staatlich subventionierte UBS weiterhin bezahlen, ohne darüber öffentlich Rechenschaft zu geben; ein Antrag, solches Tun wenigstens vorübergehend zu verbieten, ist in der Parlamentsdebatte vom Dezember 2008 durch Regierung und bürgerliche Fraktionen abgeschmettert worden.
Das Sanierungspaket 2008 fasst die Grossbanken mit Samthandschuhen an. Es suggeriert, nach dem massiven Eingriff zur Rettung des Systems könne man zum Courant normal und zum neoliberalen Laissez-faire zurückkehren. Einzig die Eigenmittel wollen Regierung und Bankenkommission (neu: Finanzmarktaufsicht FINMA) gezielt anheben und mit einer Grenze für die Verschuldung von 95 Prozent kombinieren, was die Geschäfte der Grossbanken verteuern und ihr Bilanzwachstum etwas bremsen wird. Eine Verschuldungsgrenze dämpft auch die Risikofreudigkeit, aber nach Ansicht namhafter Ökonomen müssten die Eigenmittel auf zehn oder gar zwanzig Prozent der Bankaktiven erhöht werden, um die Finanzinstitute wirklich von gefährlichen Spekulationen abzuhalten.
Das Bankgeheimnis, lange ein Symbol für den finanzmarktpolitischen Sonderfall Schweiz, war für den Finanzminister bis Anfang 2009 «nicht verhandelbar». Was aussenpolitisch schon längst anstand und wofür die vereinigte Linke in diesem Land während Jahrzehnten vergeblich gestritten hatte, nämlich das Schleifen dieser Festung, das gelang der UBS, mit der Hilfe von FINMA und Bundesrat, praktisch über Nacht. Dass diese Grossbank, die mehr als ein Drittel ihrer Geschäfte in den USA generiert, die amerikanischen Gesetze nicht achtet, ist gerichtsnotorisch. Gegen Ende 2007 wurde ruchbar, dass die UBS im grossen Stil und auf raffinierte Weise Tausenden von US-Bürgern behilflich war, Vermögen am Fiskus vorbei auf Konten in die Schweiz zu schleusen. Ein ehemaliger UBS-Kundenberater hatte diese Praktiken verraten, die dem Vertrag mit den US-Behörden, den die Bank 2002 unterzeichnet hatte, total widersprachen. Die UBS zeigte öffentlich Reue, versprach, keine US-Kunden mehr vom Standort Schweiz aus zu betreuen, und konnte einer Anklage, die ihrem Amerikageschäft massiv geschadet oder gar zu einem Lizenzentzug geführt hätte, mit einer Zahlung von 780 Millionen USD (!) vorerst entgehen.
Die Schweizer Diplomatie hatte sich für die UBS mächtig ins Zeug gelegt, und es gelang ihr, den Amerikanern für das weitere Vorgehen in dieser heiklen Affäre den Rechtshilfeweg schmackhaft zu machen. Damit war der Fall UBS auch zu einem Fall Schweiz geworden, und die Schweiz drohte zum Gefangenen der UBS zu werden. Die US-Behörden reichten im Juli 2008 bei der Eidgenössischen Steuerverwaltung ein ordentliches Rechtshilfebegehren ein, doch das Tempo, das die Schweiz bei der Behandlung dieses Gesuchs anschlug, schien den Amerikanern zu zögerlich. Sie drohten Ende 2008 und Anfang 2009 ultimativ, gegen die UBS nun doch Anklage zu erheben. Jetzt ging plötzlich alles wie geschmiert. Am 18. Februar 2009 erliess die FINMA, nach Rücksprache mit dem Bundesrat, eine Verfügung, die UBS habe rund 300 Dossiers mutmasslicher Steuerbetrüger herauszugeben, die ohne Möglichkeit, dagegen Beschwerde einzulegen, den US-Behörden sofort ausgeliefert wurden.
Dieser Entscheid war der Durchbruch in Sachen Bankgeheimnis, aber er war auch ein Bruch mit unserer Rechtsordnung. Das Bundesverwaltungsgericht hat dieses Vorgehen als rechtswidrig beurteilt; ein Abkommen mit den USA, weitere geheime UBS-Bankdaten auszuliefern, musste deshalb vom Parlament legitimiert werden.
Too big to fail: Herausforderung und Chance für die Politik
Kann die Schweiz die Kraft aufbringen, sich aus der gefährlichen Umklammerung durch ihre Grossbanken zu befreien? Wird es ihr gelingen, das schwierigste Problem ihrer Finanzmarktpolitik anzugehen: die Grösse ihrer Grossbanken. Der Staat kann die Bankriesen in einer Krise nicht mehr fallen lassen; ihre Insolvenz der würde den Zahlungsverkehr lahmlegen. Wer möchte schon verantworten, dass Zehntausende von mittleren und kleineren Firmen die Löhne nicht mehr auszahlen könnten? Aber die Bankriesen sind so gross geworden, dass unsere relativ kleine Volkswirtschaft die Kosten eines möglichen GAU auf dem Finanzplatz gar nicht mehr stemmen könnte. Umso wichtiger ist die Eindämmung des Risikos. Auf die Selbstbescheidung der Grossbanken zu hoffen, wäre nach Wittmann gleich unvorsichtig, wie wenn man den Hund das Wurstdepot bewachen liesse. Zu stark ist die Versuchung, im neuen Aufschwung wieder mit der grossen Kelle anzurichten, wenn riesige Gewinne winken und man das Risiko letztlich auf die Steuerzahler abschieben kann («Moral Hazard»).
Die indirekte Staatsgarantie stellt einen hochproblematischen Wettbewerbsvorteil dar, der das Wachstum der Grossbanken noch beschleunigt. Wenn sie auf diese „Subventionen“ verzichten und ihre Risiken nach den üblichen Konditionen am Markt versichern müssten, wäre ihr Engagement im Investmentbanking nicht mehr lukrativ.
Der neue Nationalbankpräsident Philipp Hildebrand will diese Problematik angehen. Er hat sich in den entsprechenden Gremien national und international einen Namen gemacht. Als ehemaliger Hedgefonds-Manager kennt er den Töff. Wenn er aus Erfahrung betont, der Finanzmarkt sei selber nicht in der Lage, sich vernünftig zu regeln, er brauche in seinem eigenen Interesse eine robustere staatliche Aufsicht, dann muss man ihm das wohl oder übel abkaufen. Doch jetzt werden die Geschütze gegen Hildebrand in Stellung gebracht. Da lesen wir von all den Vorzügen grosser Universalbanken für unsere Volkswirtschaft, und die Marktfundamentalisten wettern schon wieder gegen jede Staatsintervention, als hätte es die jüngste Krise gar nie gegeben.
Immerhin erhält Hildebrand Unterstützung auch aus der Zivilgesellschaft. Nicolas Hayek, das unternehmerische Gewissen des Werkplatzes Schweiz, ist noch im September 2009 mit einer Dompteurnummer der besonderen Art vor die versammelten Medien getreten: mit SP-Chef Levrat zur Linken und SVP-Ikone Blocher zur Rechten hat er Hildebrand den Rücken zu stärken versucht. Aber die Mitte-Parteien waren nicht vertreten; sie gingen auf Distanz. Erst allmählich melden sich vereinzelt auch liberale Stimmen, die am Mythos unserer Grossbanken zweifeln und einen Paradigmenwechsel in der Finanzmarktpolitik für nötig halten.
Die Politik verzögert das Geschäft. Wie üblich bestellt der Bundesrat zur Klärung erst mal eine Expertenkommission. Diese Kommission, in der die Grossbanken prominent vertreten sind, präsentiert ihren Bericht im Herbst 2010. Sie gibt zu: Die Grossbanken sind viel zu gross. Aber sie schlägt keine Grössenbeschränkungen vor, weder in Bezug auf Marktanteile noch bezüglich Verhältnis von Bilanzen zum BIP. Sie will auch kein Trennbankensystem, keine Einschränkung des Eigenhandels, kein Verbot speziell gefährlicher Instrumente. Sie interveniert nicht in die Geschäftspolitik der Banken, die missliebige Verbote ohnehin zu umgehen verstünden. Und sie verzichtet auf strenge Grenzen der Verschuldung, obwohl gerade ein hoher Verschuldungsgrad die Banken in den Abgrund führte. Sehr grosse Banken sind ökonomisch und politisch gefährlich für ein kleines Land. So mächtige Unternehmen wollen sich die Geschäftsmodelle nicht von der Politik vorschreiben lassen. Und ob ihre Löhne und Boni den sozialen Frieden gefährden, kümmert sie wenig.
Die rasche Beseitigung des «Klumpenrisikos», das die Grossbanken für unsere Volkswirtschaft darstellen, ist eine Schicksalsfrage; sonst droht die Gefahr, dass Staat und Gesellschaft für Fehler und Masslosigkeit privater Managements massiv zur Kasse gebeten werden. Die Krise hat uns in Erinnerung gerufen, dass auch die Finanzwirtschaft eine letztlich durch den Staat garantierte Veranstaltung ist. Die Politik ist gefordert. Sie muss endlich ein grösseres Eigengewicht einbringen, damit sie den Wirtschaftsinteressen, die sie regeln sollte, auf Augenhöhe begegnen kann. Auch in diesem Sinne ist die Finanzkrise eine echte Chance, um bei den grossen Zukunftsfragen unseres Landes den Primat der Politik zurückzugewinnen.
Dieser Text ist erschienen in:
Brändle, Thomas und Dominik Riedo, Hg. (2011): Über Geld schreibt man doch! Eine Anthologie, Oberhofen: Zytglogge, 29-39
Vgl. zur selben Thematik auch:
Hablützel, Peter (2010): Die Banken und ihre Schweiz. Perspektiven einer Krise, Zürich: Conzett
Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.