Ökonomische Rationalität: aktueller Stand der Aufklärung?
Autorin/Autor: Philippe Mastronardi
Vor rund dreihundert Jahren erwachte in Europa die Vernunft als die Fähigkeit des Menschen, denkend zu erkennen, was wahr und richtig ist. Der Mensch erkannte sich selbst als das Wesen mit dem rationalen Erkenntnisvermögen. Er wurde sich bewusst, das er als Subjekt über die Fähigkeit der geistigen Reflexion verfügte, die Möglichkeit, sich und die Welt aus der Distanz wahrzunehmen und zu beurteilen. Motiv und Ergebnis dieser Erkenntnis war die Emanzipation des Individuums von hergebrachten gesellschaftlichen Zwängen und Normen. Ziel war die Freiheit des Einzelnen. Von nun an sollte der Mensch sich seine Regeln individuell und kollektiv selber geben. Rechtsstaat und Demokratie wurden zum Hort der privaten und öffentlichen Autonomie.
In der Wirkungsgeschichte der Aufklärung spalteten sich freilich die beiden Freiheitsreiche des Privaten und des Öffentlichen. Wenn – wie im letzten Beitrag an dieser Stelle angesprochen – das liberale Ideal sich im egoistischen Interesse des Einzelnen verlor, schwand auch die Bindungskraft des Öffentlichen, während das Private sich den öffentlichen Raum zu eigen machte – sich regelrecht aneignete. Das Interesse des Einzelnen wurde zum Massstab auch der Öffentlichkeit. Diese sollte nach dem Vorbild des Individualismus gestaltet werden. Das Ganze der Gemeinschaft sollte nur noch die Summe der Einzelinteressen sein.
Für diese Form der Rationalität bot sich die ökonomische Rationalität wie von selbst an: Am freien Markt – so das Wunschbild – sucht jeder sein Eigeninteresse zu maximieren. Dank dem Wettbewerb aller mit allen fühlt sich jeder dabei zur Bestleistung angespornt. Damit wird automatisch die Gesamtleistung optimiert. Die Marktrationalität wird zur Statthalterin der ökonomischen Vernunft. Und da die Wirtschaft zum privaten Bereich – im Gegensatz zum Staat als dem öffentlichen – geschlagen wird, breitet sich das private Denken in der ganzen Gesellschaft in der Form der ökonomischen Logik aus. Die Vernunft bleibt zwar als idealer Fluchtpunkt gültig, ist aber viel zu anspruchsvoll, um praktisch zu werden. Auf das Machbare reduziert, bedeutet Vernunft daher das, was aus dem ökonomisch rationalen Egoismus aller resultiert. Freiheit ist die Macht, seine Eigeninteressen ungehindert durchzusetzen. Die Grenzen der Freiheit liegen nicht in der Rechten anderer, sondern in den Grenzen der eigenen Durchsetzungskraft. Mein Vermögen – im doppelten Sinne – bestimmt, was ich darf.
Was ist da schiefgelaufen?
Das liberale Modell zieht die Trennlinie zwischen dem privaten Bereich und dem öffentlichen Raum entlang der formellen Staatsorganisation und entlässt die private Ausübung öffentlicher Macht durch Gesellschaft und Wirtschaft aus der öffentlichen Verantwortung. Es unterscheidet das Private vom Öffentlichen nach dem Kriterium von Freiheit und Zwang. Individuum, Gesellschaft und Wirtschaft sind die Orte der Freiheit, der Staat ist der Ort des Zwangs. Das war freilich nicht immer so. Ursprünglich – etwa im griechischen Altertum – gehörte die Wirtschaft in den Bereich des privaten Haushalts. Ökonomie kommt ja von oiko-nomos, der Haus-Verwaltung. Die Wirtschaft war Teil des Zwangsbereichs, der privaten Unfreiheit. Damit war die Zuordnung von Freiheit und Zwang gerade umgekehrt als nach dem liberalen Modell: Der private Bereich war der Zwangsbereich; der öffentliche Raum war der Raum der Freiheit. Mit der Arbeitsteilung löste sich das Wirtschaften vom Haushalt und vom familiären Bereich. Es wurde öffentlich. So wie die Gesellschaft öffentlich gewordener privater Bereich ist, ist die Wirtschaft das öffentlich gewordene Haushalten.
Dabei behielt das Wirtschaften aber seine private Logik bei. Die Ausdehnung der Wirtschaft in allgemein-abstrakte Beziehungen unter Menschen brachte auch eine Ausdehnung der privaten Regeln in den öffentlichen Raum. Es ging immer noch um die Bewältigung des Lebensnotwendigen, um die Deckung von Bedürfnissen. Die Bedürfnisbefriedigung wurde so zum allgemeinen Massstab des Verhaltens. Lust und Unlust, die Kriterien des Not-Wendigen, der Überwindung von Zwängen des privaten Bereichs, wurden in den öffentlichen Raum getragen. Heute nun verdrängen die Verhaltensregeln des Wirtschaftens die Grundsätze des Handelns im öffentlichen Raum immer mehr. Nützlichkeit, Effektivität und Effizienz treten an die Stelle der öffentlichen Tugend der Gerechtigkeit. Und an die Stelle der Verständigung, der Kommunikation über gegenseitiges Handeln treten die Steuerungsmechanismen des Marktes, insbesondere der Wettbewerb und das Geld.
Mit der Eroberung des öffentlichen Raumes erlangt die Wirtschaft einen Systemcharakter, dem wir uns ausgeliefert fühlen. Und die Politik übernimmt im Gefolge der Wirtschaft ähnliche Züge. Auch sie wird zum System. In dieser Perspektive nehmen wir den öffentlichen Raum nicht mehr als Ort der Freiheit wahr, sondern erleben ihn als Ort des Zwangs, dem wir hilflos gegenüberstehen. Daher sind wir versucht, in den privaten Bereich zu fliehen, wo wir hoffen, noch frei sein zu können. Allerdings erliegen wir bei dieser Flucht einem grundsätzlichen Irrtum. Die private Freiheit, die wir dabei finden könnten, ist negative Freiheit, reine Abwehr von äusserem Zwang. Diese Negativität würde uns der Ausrichtung auf einen Sinn berauben. Sinn ist nur in einer positiven Freiheit zu finden, der Freiheit zu und für etwas, das wir für sinnvoll halten. Dieses Ziel kann zwar auch im privaten Bereich liegen, aber wenn wir auf die Ziele des öffentlichen Raums verzichten, verlieren wir einen Grossteil unserer Entfaltung.
Was ist zu tun?
Es gilt zu erkennen, dass die private Freiheit auf die öffentliche Freiheit angewiesen ist. Private Freiheit heisst ungehinderte Willensbetätigung. Sie ist zu schützen gegen alle ungerechtfertigten Einschränkungen von aussen. Öffentliche Freiheit hingegen heisst gleiche und gerechte Entfaltungsmöglichkeiten für alle. Sie ist zu schützen durch Kontrolle aller Machtausübung. Letztlich geht es in beiden Bereichen um das Gleiche. Ich kann im Privaten nur frei sein, wenn ich im Öffentlichen das Recht habe, die Macht, die andere über mich haben, zu kontrollieren. Es braucht die öffentliche Verantwortlichkeit für die private Freiheit. Umgekehrt ist die kollektive Freiheit darauf angewiesen, dass Private ihre Freiheit hüten wollen. Denn ohne Wachsamkeit wird Verantwortlichkeit nicht geltend gemacht.
Der Schutz der beiden Freiheiten ist der Sinn von Rechtsstaat und Demokratie. Der Rechtsstaat schützt mehr die private, die Demokratie mehr die öffentliche Freiheit. Die Grundrechte verknüpfen aber auch private Freiheit und öffentliche Verantwortung miteinander. Denn sie machen den Schutz privater Freiheit zu einer öffentlichen Aufgabe.
Wenn wir uns dem Würgegriff der ökonomischen Rationalität entwinden wollen, müssen wir ein neues Gleichgewicht von privater und öffentlicher Freiheit anstreben. Es gilt, die Aufklärung aus ihrer ökonomischen Sackgasse zu befreien und ihr den Weg zur öffentlichen Autonomie des Menschen zu weisen. Die Aufklärung muss weitergehen.
Dieser Text wurde am 30.04.2019 im WebForum des Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft NSW-RSE veröffentlicht.
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