Rechte und Pflichten: Huhn oder Ei?
Autorin/Autor: Philippe Mastronardi
Sobald die Sommerzeit gilt und der Frühling Einzug hält, belebt sich die Stadt: Auf Strassen und Plätzen, in Gärten und auf Balkonen erfreuen wir uns am verlängerten Feierabend und geniessen einen Hauch südlicher Freiheit. Jeder tut dies auf seine Art, mal laut, mal leise, mal fröhlich, mal besinnlich, in Gesellschaft oder für sich allein. Für die einen gehört Musik und Lachen, Feuern und Grillieren, Essen und Trinken dazu, für die andern Schauen und Lauschen in Abenddämmerung und Vogelgezwitscher hinein. Jeder will seine Freiheit auf eigene Weise haben.
Im Winterhalbjahr haben wir uns weitgehend in unsern vier Wänden bewegt. Nun begegnen wir einander wieder vermehrt im gemeinsamen öffentlichen Raum. Damit wird mehr Gemeinschaft möglich, aber auch mehr gegenseitige Störung. Mehr Kontakt heisst mehr Reibung. Der Fremde wird unversehens zu meinem Nächsten. Wir müssen uns verständigen. Wir müssen unsere Freiheit irgendwie miteinander teilen. Der deutsche Philosoph Immanuel Kant hat dafür die Regel vorgeschlagen, dass meine Freiheit dort aufhöre, wo jene des andern beginne, und dass das Recht die Aufgabe habe, dafür zu sorgen, dass „die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“. Freiheit ist demnach jene Ordnung, die unsere persönliche Autonomie mit der Rücksicht auf die Gemeinschaft mit andern verbindet.
Nach dieser liberalen Idee darf ich meinen Frühlingsabend nach eigener Lust geniessen, solange ich damit den gleichen Frühlingsabend der Nachbarn nicht so störe, dass diese ihn nicht mehr nach ihrer Lustvorstellung geniessen können. Mein Recht hört dort auf, wo das ihre beginnt. Mein Recht wird durch die Pflicht begrenzt, die ich den andern gegenüber zu erfüllen habe. Mein Recht wird zugleich durch die Pflicht der andern geschützt, mein Recht zu achten. Sie haben die Pflicht, meine Freiheit zu respektieren. Wir gewähren einander unsere Freiheiten durch gegenseitige Verpflichtungen. Ohne Pflicht kein Recht.
Meist wird dieses Verhältnis von Recht und Pflicht so verstanden, dass mein Recht die Pflicht der andern ist. Mein Recht reicht genau so weit, wie die andern verpflichtet sind, mein Recht zuzulassen. Meine Party auf dem Balkon ist möglich, weil die andern sie dulden müssen. Wenn ich aber will, dass die andern mein Recht anerkennen, muss ich ihnen das Gleiche zugestehen: Sie dürfen ihre Party auch dann haben, wenn ich mal meine Ruhe haben möchte. Ich kann mein Recht nur haben, wenn ich meine Pflicht anerkenne, den andern auch ihr Recht zuzugestehen.
In diesem Denken kommt das Recht immer zuerst. Die Pflicht ist Mittel, um das Recht zu erlangen. Niemand will Pflichten. Sie sind bloss eine Notwendigkeit, die ich anerkennen muss, weil ich nun einmal auf die andern angewiesen bin. Das Paradies wäre ein Leben in Freiheit ohne Pflicht. Immanuel Kant hat das freilich ganz anders gesehen. Für ihn war der freie Wille nichts anderes als die Fähigkeit, aus der Einsicht in die moralischen Gesetze vernünftig zu handeln, also nach dem sogenannten kategorischen Imperativ: Handle stets nach nach derjenigen Maxime, von der du wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde -das also auch gegen dich gelte. Freiheit ist danach Handeln nach jenen Pflichten, die für alle gelten sollen. Eigentlich kommt in diesem Freiheitsverständnis zuerst die Pflicht und dann das Recht. Frei bin ich dann, wenn ich meine Pflichten erkenne und sie erfülle. Die Freiheit ist eine Folge der Pflichterfüllung.
Ist das nicht lebensfremd? Bei näherem Zusehen nicht. Im praktischen Leben wird uns immer dann eine Freiheit zuerkannt, wenn wir die Voraussetzungen dazu erfüllen. Wir haben von unseren Eltern Freiräume immer erst dann zugebilligt erhalten, als sie fanden, wir seinen fähig, die Verantwortung für unser Handeln selbst zu übernehmen. In Schule und Beruf mussten wir neue Verantwortungsbereiche erwerben, bevor wir die entsprechenden Kompetenzen ausüben durften. Zum Autofahren müssen wir eine Fahrprüfung bestehen. Die Freiheit, die wir haben, wird uns auf dem Weg über die Pflichten, die wir erfüllen müssen, definiert und gewährt. Verantwortung ist mindestens ebenso Voraussetzung von Freiheit wie umgekehrt.
Trotzdem verstehen wir uns meist primär als Träger von Rechten, nicht von Pflichten. Dieses Freiheitsverständnis hat freilich einen bösen Haken: Wenn wir Freiheit als ein Recht verstehen, dem bloss ein paar Pflichten entgegenstehen, zerstören wir die Freiheit als Ganze. Denn je weniger wir unsere inneren Pflichten als Teil unserer Freiheit anerkennen, desto mehr müssen Staat und Recht äussere Pflichten errichten. Es ist paradox: Je mehr Willkür wir für uns selbst beanspruchen, desto mehr Staat braucht es. Je mehr wir Freiheit als privates Privileg missverstehen, desto mehr öffentliche Pflichten müssen geschaffen werden. Je mehr Privatisierung unserer Freiheit, desto mehr Verstaatlichung unseres Lebens.
Dieser Text ist erstmals erschienen als Kolumne am 20. 4. 2012 in der Neuen Luzerner Zeitung.
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