Warum grassiert der Populismus?
Autorin/Autor: Philippe Mastronardi
Aufstieg des Populismus: Niedergang des Liberalismus
In der liberalen Gesellschaftskonzeption steht die Wirtschaft für den Nutzen, der Staat für die Gerechtigkeit. Beim Wirtschaften sollen wir frei sein, den Eigennutz zu optimieren. Der Wettbewerb hat die Aufgabe, die Teilnehmer zu Bestleistungen zu motivieren und damit die Gesamtleistung zu erhöhen. Demnach fördert der Egoismus das Gemeinwohl. Wenn das klappt, wird durch das Gewinnstreben der Einzelnen der Gesamtnutzen vermehrt. Dass dabei einige gewinnen, andere verlieren, wird in Kauf genommen.
Der Staat hat in dieser Sichtweise die Aufgabe, stossende Ungerechtigkeiten des Wirtschaftssystems zu korrigieren. Das beginnt beim Rechtsstaat mit seinem Vertragsrecht und seinen Gerichten. Der Rechtsstaat soll dafür sorgen, dass Wettbewerb nicht zu Krieg entartet, sondern Fairness im Wettbewerb gewährleistet wird. Es geht weiter zur sozialstaatlichen Kompensation für die Verlierer am Markt. Die Sozialversicherungen sollen die negativen Auswirkungen des Wettbewerbs auffangen. Es endet in der Demokratie. Hier gilt nicht die Gleichheit der Franken, sondern jene der Köpfe. Es zählt nicht, wieviel Geld einer einsetzen kann, sondern wie viele Menschen er überzeugt. Demokratie ist der Versuch, der ökonomischen Logik eine gesellschaftliche entgegenzustellen.
Dieses liberale Konzept hat schon immer Schwächen gehabt. Es vertraute auf das autonome Individuum, das sein Schicksal in die Hände zu nehmen vermag. Es verfolgte einen Freiheitsbegriff, der die soziale Einbindung des Menschen unterschätzte. Es gab dem privaten Lebensbereich einen Vorrang vor dem öffentlichen Raum. Dem Wandel der Perspektiven in den letzten Jahrzehnten ist dieses Konzept vollends nicht mehr angemessen. Seine Prämissen stimmen nicht mehr. Und je mehr das liberale Modell irreal wird, desto stärker wird es missbraucht. Individualität wird zu Egoismus, Freiheit zu Machtanspruch, Privatheit zu Raubbau an öffentlichen Institutionen.
Das grosse historische Verdienst des Liberalismus war, uns einen Weg aus der Fremdbestimmung zu weisen und uns zur Selbstbestimmung hin zu führen. Er hat die alten Herrschaftsformen des Feudalismus überwunden und den Individualismus der Moderne begründet. Das sind unverzichtbare Errungenschaften. Aber Selbstbestimmung ist anspruchsvoll. Ohne Anleitung und Rahmen führt sie in die Irre. Der Populismus macht sich das zu nutze. Er appelliert an die Ohnmachtsgefühle von Menschen, die selbstbestimmt leben möchten, sich daran aber durch bestehende Machtstrukturen gehindert sehen. Diese Menschen vergleichen das liberale Gedankengut mit den realen Verhältnissen. Sie sehen ihr Ideal der Selbstbestimmung durch die real erfahrene Fremdbestimmung verletzt. Sie sehen, wie das liberale Versprechen von denen, die es vertreten, verletzt wird. Da sie dagegen selbst nichts ausrichten können, verfallen sie leichthin dem Populisten, der verspricht, ihre Wünsche zu erfüllen.
Warum aber gilt das heute mehr als vor Jahrzehnten, obwohl es heute den meisten materiell bessergeht als damals?
Der liberale Prozess der Individualisierung unserer Gesellschaft ist begleitet von einer Verschiebung in der Orientierung unseres Handelns. Während nach dem liberalen Ideal unser Handeln primär regelgeleitet sein sollte, ist es faktisch zunehmend interessengeleitet. Interessen sind freilich immer ein Motiv unserer Lebensweise gewesen. Aber das liberale Konzept forderte von uns, dass wir unsere Interessen gegenüber den Regeln unserer Konzeption von Freiheit rechtfertigen mussten. Regelgeleitetes Handeln muss seine Ziele begründen. Interessen aber sind einfach Kräfte unseres Strebens, sie brauchen keine Rechtfertigung. Das Scheitern des Liberalismus liegt darin, dass er dem Individuum nicht die versprochene Autonomie gebracht hat. Denn Auto-Nomie wäre eigentlich Selbst-Gesetzlichkeit. Freiheit wäre Gehorsam gegenüber dem Gesetz, das wir uns selbst gegeben haben (Rousseau). Der autonome Mensch handelt durchaus regelorientiert, nur nimmt er sich heraus, die Regeln, die er als verbindlich anerkennen will, selbst zu bestimmen. In deren Rahmen muss er Pflichten anerkennen, Gebote und Verbote befolgen. Wenn sich nun in der gesellschaftlichen Entwicklung das Streben nach Autonomie zum Streben nach Glück verschiebt, verändert sich der Orientierungshorizont. Unser Handeln wird nicht durch Gründe und Regeln geleitet, die wir für uns als bestimmend anerkannt haben, sondern durch Wünsche und Interessen, die uns auf ein Zielbild des Glücks ausrichten.
Wo regelgeleitetes Handeln Entscheidungen nach Normen oder Grundsätzen trifft, entscheidet interessengeleitetes Handeln nach Gefühlen oder Empfindungen. Wo der liberale Mensch normativ geleitet und damit beständig oder gar berechenbar ist, lebt der auf sein Glück hin ausgerichtete Mensch situativ, spontan, flexibel. Letztlich folgt der erste einer Ethik der Gerechtigkeit, der zweite jener des Nutzens. Der eine fragt: «was soll ich tun?», der andere «was will ich tun?». Der eine fragt sich, was richtig ist, der andere, was angemessen scheint. Der eine will die selbst gesetzten Plichten erfüllen, der andere will sein Glück erstreben. Beides ist legitim, aber wenn das Glücksstreben überhandnimmt, leidet die Gerechtigkeit.
Die gesellschaftliche Entwicklung von Fremdbestimmung zu Selbstbestimmung ist damit zugleich eine Verschiebung von Regelorientierung zu Glücksstreben. Handeln nach Rechten und Pflichten wird durch situatives Handeln nach optimalem Resultat ersetzt. Normativität weicht Flexibilität. Alles ist relativ, es gibt keinen Massstab des Richtigen. Was als Ideal gemeint war, wird zur Ideologie, weil es als Lebensmaxime nicht taugt. Im Zeitalter der Beliebigkeit ist die einzige taugliche Maxime der Pragmatismus. Die Kunst des Lebens besteht darin, aus dem Gegebenen das Beste zu machen.
Damit weicht der Liberalismus einem Opportunismus, der jedem erlaubt, nach seinem Vorteil zu handeln. Darin decken sich die Orientierungen sowohl der Verlierer der liberalen Ordnung wie jene der Populisten, welche den Enttäuschten die Hoffnung auf Glück wecken und sie damit zu verführen suchen. Beide ziehen aus dem Zerbrechen der alten Rationalität autonomer Regeln einen Nutzen: Die Geprellten dürfen ihren Emotionen freien Lauf lassen, ohne durch Rücksicht auf gültige Normen behindert zu werden. Die Verführer dürfen alles versprechen, was nicht gehalten werden kann, weil es der momentanen Gefühlsalge ihrer Klientel entspricht. Glücksgefühle lassen sich so bereits entfalten, bevor die Vision realisiert werden muss. Populismus grassiert.
Was ist da schiefgelaufen?
Im Kampf gegen die Fremdbestimmung hat der Liberalismus einseitig auf Selbstbestimmung gesetzt. Er hat der alten Ordnung ein neues Menschenbild der Autonomie entgegengesetzt, das er nicht verwirklichen konnte. Geblieben ist ein Individuum, das seinen Halt in sich selber suchen muss, ohne von der Gesellschaft mitgetragen zu werden. Der moderne Liberale hat sein Weltbild privatisiert, d.h. von der öffentlichen Gemeinschaft abgekoppelt, zu der er gehört. Das Private ist zur Ideologie geworden, das Öffentliche zum Problem statt zur Lösung der Probleme. Das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ist gestört. Gesellschaftliche Bindungen sind immer fremdbestimmt. Daher werden sie aus liberaler Sicht verworfen. Damit hat der Liberalismus aber das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Der Kampf gegen die alte autoritäre Ordnung war richtig, aber das Pendel hat zu weit ausgeschlagen. Der Mensch muss als soziales Wesen den Dualismus von Individuum und Gesellschaft aushalten können. Er muss sich als Teil eines Ganzen wahrnehmen und sich in dessen Gestaltung einbringen. Ich bin ich selber nur im Miteinander mit den andern. Mit-ein-ander: das ist mit den andern eins sein.
Vielleicht lehrt uns die verletzte Natur, dass wir Teil einer grösseren Ordnung sind, an der wir bestenfalls teilhaben können, sie aber nicht in falsch verstandener Selbstbestimmung zu bezwingen vermögen. Die alte Fremdbestimmung hat uns unterdrückt. Aber die neue Selbstbestimmung zerstört die Grundlagen unseres Lebens. Vielleicht müssen wir eine Mitte finden: die Mit-Bestimmung – die positive Freiheit, als Mitglied unserer Gesellschaft und als Teil der Natur am Wohl des Ganzen mitzuwirken. Vielleicht führt der Weg des modernen Menschen von Fremdbestimmung über Selbstbestimmung zu Mitbestimmung. Dann hat der Populismus keine Chancen mehr.
Dieser Text wurde am 26.11.2018 im WebForum des Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft NSW-RSE veröffentlicht.
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