Moralische Grenzen des Marktes oder: Was spricht gegen eine totale Marktwirtschaft?
Autorin/Autor: Peter Ulrich
Marktwirtschaftlicher Wettbewerb ist, massvoll etabliert zur effizienten Bereitstellung qualitativ guter Waren und Dienstleistungen, an sich eine gute Sache: Er weckt die Leistungsbereitschaft der Wirtschaftsakteure und befördert damit den gesellschaftlichen Wohlstand. Aber er wird fragwürdig, wenn er sich auf Lebens- und Gesellschaftsbereiche erstreckt, die sinnvollerweise nach anderen Prinzipien gesteuert werden sollten, weil sie vom Marktdenken in ihrer essenziellen Qualität beeinträchtigt oder ganz zerstört werden: „Sie in den Marktmechanismus einzubeziehen, das heisst die Gesellschaftssubstanz schlechthin den Gesetzen des Marktes unterzuordnen“ – so formulierte der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi in seinem berühmten Buch The Great Transformation (1978, S. 106) das Problem schon vor 70 Jahren. Er bezog das auf sämtliche natürlichen und kulturellen Voraussetzungen einer zivilisierten Gesellschaft; sie dürften keiner „Warenfiktion“ (S. 108) unterworfen werden. Werden alle Lebensbereiche unterschiedslos ökonomisiert, so schwindet allmählich das Bewusstsein für den Wesensunterschied zwischen Wirtschaft und Gesellschaft, und so gehen auch die Kriterien für eine sachgemässe Begrenzung des Marktes verloren. Wie schon Polanyi (S. 88) klar sah, läuft das auf die „Behandlung der Gesellschaft als Anhängsel des Marktes“ hinaus. Aus einer lebensdienlichen Marktwirtschaft wird dann tendenziell eine totale Marktgesellschaft, in der alles nach Marktpreisen bewertet und das ganze Leben wettbewerblichen Selbstbehauptungszwängen unterworfen wird. Am Ende macht ein allzu „freier“ Markt die Menschen, die sich in ihm existenziell behaupten müssen, real höchst unfrei.
Eine offene und faire Gesellschaft ist eben mehr als ein freier Markt; ein gutes Leben mehr als Wohlstand. Daher darf nicht alles, was das Leben lebenswert macht, käuflich sein. Diese ebenso elementare wie alte wirtschaftsethische Einsicht hat jüngst der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel (2012) in seinem Bestseller Was man für Geld nicht kaufen kann: Die moralischen Grenzen des Marktes mit einer Fülle höchst anschaulicher Beispiele brillant belegt, um damit das Überdenken der angemessenen Rolle des Marktes in der gegenwärtig etwas desorientierten modernen Gesellschaft anzuregen.
Greifen wir eines der Demonstrationsbeispiele Sandels auf. Besonders in England, wo das moderne market reasoning ja seinen Ursprung hat, ist als kulturelles Gegenmoment immer auch die queuing disciplinehochgehalten worden, also das geduldige Einordnen in Warteschlangen all derjenigen, die Zugang zu knappen Gütern oder knappen Plätzen suchen – ohne Ansehen der Person. Darin kommen nicht nur zivilisierte zwischenmenschliche Umgangsformen, sondern auch die moralische Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung aller Gesellschaftsmitglieder zum Ausdruck. Verteilt werden die knappen Einheiten nach dem Kriterium „first come, first served“oder auf Deutsch: „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.“ Wird demgegenüber für zahlungskräftige Ungeduldige beispielsweise bei Check-in’s in Flughäfen oder auf überfüllten Autobahnen ein fast trackeingeführt, so wird das egalitäre Ethos der Warteschlange ersetzt durch die normative Logik des Marktes: „you get what you pay for“. Einige sind nun gleicher als die anderen; sie dürfen aus der Schlange der Geduldigen ausscheren und vorpreschen. In einsichtig begründeten Sonderfällen – wie Feuerwehr und Krankenwagen – werden das die Wartenden gewiss als wohlbegründete Ausnahmen akzeptieren. Wenn aber einfach ungeduldig sein darf, wer es sich finanziell leisten kann, so stehen die notgedrungen Geduldigen unversehens als diskriminiertes Fussvolk da. Fährt es sich für die zahlungskräftige „Elite“ auf der schnellen Überholspur dank käuflicher Vorzugsbehandlung allzu ungeniert, so fühlen sich die Geduldigen bald einmal als die Dummen. An irgendeinem Punkt ihrer gebeutelten Frustrationstoleranz bricht die Warteschlangendisziplin schliesslich zusammen. Danach bleibt scheinbar nur noch die „Marktlösung“ zur Regelung des Problems übrig, und die Vertreter des Marktdenkens fühlen sich in ihrem skeptischen Menschenbild bestätigt…
Schwerwiegend wird es, wenn das Marktprinzip nicht nur den Anstand und den zivilisierten zwischenmenschlichen Umgang unterhöhlt, sondern grundlegende Prinzipien der Fairness und Gerechtigkeit tangiert, also moralische Grenzen zu überschreiten droht. Einige drastische, aber dennoch nicht ganz realitätsferne Beispiele (nicht alle aus Sandels Buch) mögen für sich selbst sprechen. So dürfen qualifizierte Bildungsabschlüsse um ihrer Bedeutung willen nicht käuflich sein, sondern allein von der individuellen Schul- oder Studienleistung abhängen. Ebenso wenig dürfen – um der Gerechtigkeit willen – Gerichtsurteile oder – um der Demokratie willen – Wahlen und Abstimmungen käuflich sein. Bürgerrechte werden durch moderne Staatsverfassung allen Staatsbürgern gleichermassen gewährt und nicht wie Autokennzeichen mit speziellen Zahlenkombinationen den Meistbietenden verkauft. Den Spendern menschlicher Organe für Transplantationen dürfen keine Zahlungen offeriert werden, sonst entstünde ein fataler „Anreiz“ für die Ärmsten der Armen auf der Welt, die sich sonst nicht mehr zu helfen wissen. Und auch ein Sklavenmarkt passt bekanntlich nicht mehr zu einer modernen Gesellschaft.
Gegen all diese falschen Märkte verwehrt sich der gesunde Menschenverstand. Und dennoch werden immer weitere zuvor anders koordinierte Handlungsbereiche und Lebenssphären ökonomisiert. Von der Kindererziehung bis zur Managerentlohnung werden erwünschte Verhaltensweisen heutzutage durch pekuniäre Anreize verstärkt, die jedoch zu einer Zielverschiebung führen, bis am Ende die intrinsische Sinnorientierung von der extrinsischen „Motivation“ restlos verdrängt ist. Dann läuft erst mal gar nichts mehr, bevor Moneten locker gemacht werden: Schulkinder beginnen gar nicht erst mit den Hausaufgaben, und noch so hochbezahlte Manager betreten gar nicht erst ihr neues Büro, bevor eine passende „Antrittsentschädigung“ fliesst. Die „Bonuskultur“ herrscht längst im Kleinen wie im Grossen.
Von unmoralischen Fehlanreizen muss spätestens die Rede sein, wenn etwa Terminbörsen für Rohstoffe und Lebensmittel nicht mehr ihrem ursprünglichen lebenspraktischen Zweck dienen, nämlich der finanziellen Absicherung der Produzenten gegen Preisschwankungen, sondern daraus ein x-mal grösserer Spekulationsmarkt wird, der die Volatilität der versicherten Preise verstärkt statt ausgleicht und damit möglicherweise die Zahl der Hungernden auf der Welt vergrössert. Wenn finanztechnische Methoden nur mehr dazu dienen, aus Geld mehr Geld zu machen ohne den lästigen, da zeitraubenden „Umweg“ über die Realwirtschaft und ohne Rücksicht auf möglicherweise – wie jüngst in der Bankenkrise – verheerende Konsequenzen für viele betroffene Menschen, verliert die Schaffung neuer Märkte jeglichen Sinn und alle Legitimität.
Eine allzu grenzenlos enthemmte und entfesselte Marktwirtschaft erkennt man auch an der symptomatischen Verkehrung von Mitteln und Zwecken: Statt dass die „Volkswirtschaft“ leistet, was der Begriff verspricht, indem sie der ganzen Bevölkerung dient, muss diese sich immer mehr den anonymen und angeblich „alternativlosen“ Sachzwängen des internationalen Standortwettbewerbs unterwerfen. Statt die sozioökonomischen Voraussetzungen realer Bürgerfreiheit zu gewähren, wird diese den Funktionserfordernissen des „freien“ Marktes untergeordnet. Statt einer demokratieverträglichen Marktwirtschaft wird eine marktkonforme Demokratie propagiert. Wir arbeiten dann logischerweise auch nicht mehr, um gut zu leben, sondern wir leben gefälligst, um produktiv und billig zu arbeiten. Und wir sollen – notfalls auf Pump – mehr konsumieren, damit Arbeitsplätze geschaffen werden können, statt dass erfüllte Lebensbedürfnisse die Verkürzung der notwendigen Erwerbsarbeit ermöglichen.
Den Zweck und Massstab des Wirtschaftens sollten vernünftigerweise das selbstbestimmte gute Leben und faire Zusammenleben der Menschen in der Gesellschaft bilden. Herrschen zu viel Markt und Wettbewerb, so schädigt dies das gute Funktionieren einer freiheitlichen und fairen Gesellschaft. Es ist daher als die zeitgemässe Aufgabe guter Ordnungspolitik zu begreifen, nicht in blindem (oder gar ideologisch verblendetem) Eifer Märkte immer nur zu erweitern und den Wettbewerb zu intensivieren, sondern das marktwirtschaftliche Kräftespiel durch kluge, massvolle Anreize nach lebenspraktischen Kriterien auszurichten und wo nötig zu begrenzen.
So leicht die allgemeine Einsicht fällt, dass humane Werte und moralische Prinzipien um ihrer zivilisatorischen Bedeutung willen vor der Überlagerung und Verdrängung durch monetäre Marktwerte geschützt zu werden verdienen, so schwierig und strittig ist offenbar die konkrete ordnungspolitische Ausrichtung und Eingrenzung von Märkten. Über die angemessene gesellschaftliche Rolle der Marktkoordination ist ein öffentlicher Diskurs nötig, der frei von marktwirtschaftlichen Sachzwängen und ihrer mentalen Verfestigung zu Denkzwängen stattfinden sollte; es liefe ja auf einen sachzwanghaften Zirkelschluss hinaus, diese systematisch übergeordneten gesellschaftspolitischen Entscheidungen selbst noch den Marktkräften überlassen zu wollen, wie es tendenziell immer öfter der Fall ist. Warum aber findet eine gesellschaftspolitische Debatte zur sozialen und kulturellen Wiedereinbettung der allzu sehr enthemmten und entfesselten Märkte kaum statt? Und warum ist, selbst nach den schweren Erschütterungen der Finanzkrise, die Realpolitik nicht energisch daran, die offenkundig zerstörerische Eigendynamik entfesselter Märkte in die Schranken einer für alle lebenswerten Gesellschaft zu verweisen?
Die systematische Antwort lautet: Der Markt funktioniert zwar unpersönlich, aber deswegen keineswegs auch unparteilich! Das Marktprinzip deckt sich eben nicht mit dem Moralprinzip. Würden „freie“ Märkte in gesellschaftlich neutraler Weise funktionieren, so wäre ihre begrenzte Entfaltung ebenso wie ihre lebenskluge Ausrichtung und Eingrenzung prinzipiell für die Lebensqualität aller Bürger förderlich. Dann wären im Prinzip auch alle daran interessiert, griffige ordnungspolitische Regelungen im Dienst einer gemeinwohlförderlich ausbalancierten Marktwirtschaft voranzubringen. Doch es verhält sich real anders: Die Marktverhältnisse sind asymmetrisch und deshalb keineswegs für alle Beteiligten gleich „effizient“. Je „freier“ ein Markt ist, umso mehr wirkt er parteilich zugunsten derjenigen, die im Wettbewerb stark sind. Stark ist, wer im weitesten Sinn des Begriffs über Kapital verfügt, sei das Human-, Real- oder Finanzkapital. Die systematische Parteilichkeit unserer Wirtschaftsordnung wurzelt somit weniger im Wesen der Marktwirtschaft an sich als in ihrer Überlagerung durch eine ganz bestimmte gesellschaftliche Eigentumsordnung, die gemeinhin als Kapitalismus bezeichnet wird.
Es sind also die mächtigen Interessen der Eigentümer des gesellschaftlich erstaunlich ungleich verteilten, renditesuchenden Kapitals, welche hinter den viel beschworenen „Sachzwängen“ des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs stecken. Deshalb pflegen die Vertreter der Kapitalinteressen so gerne die Gemeinwohlrhetorik von den Segnungen des „freien“ Marktes für alle. Vor drohenden ordnungspolitischen Einschränkungen der Kapitalverwertungsfreiheit warnen sie niemals mit Verweis auf ihre eigenen Partikulärinteressen, sondern schüren jedes Mal Angst vor den angeblich stets schädlichen Folgen für alle anderen, etwa dem Verlust von Arbeitsplätzen. Und so hat die existenziell verunsicherte Bevölkerung eine entsprechende Sachzwangpolitik bis anhin meistens mitgetragen, bis hin zu Niedriglohnverhältnissen wie in Deutschland oder gar zu umfassenden „Austeritätsprogrammen“ wie derzeit in Südeuropa.
Die buchstäblich kapitale Rolle der Eigentumsordnung als „Treiber“ der nicht besonders gemeinwohlförderlichen Ökonomisierung aller Lebensbereiche blendet die landläufige politisch-ökonomische Debatte noch immer weitestgehend aus. Selbst Wirtschaftsethiker und politische Philosophen, unter ihnen auch Michael Sandel, thematisieren die Rolle der kapitalistischen Eigentumsordnung in der Marktwirtschaft kaum je näher.
Erwähnte Literatur:
Polanyi, K.: The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1978 (englisch 1944).
Sandel, M. J.: Was man für Geld nicht kaufen kann. Die moralischen Grenzen des Marktes, Berlin: Ullstein 2012.
Dieser Beitrag ist zuerst erschienen im Webforum des Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft (NSW), aufgeschaltet am 24.09.2013 (dort inzwischen nicht mehr verfügbar). Übernommen vom Ethikblog der Wilhelm Löhe Hochschule, Fürth, aufgeschaltet am 6.10.2015.
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