Wie viel Markt darf sein?

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Der Markt ist das Reich der Nützlichkeit. Hier handelt jeder nach seinem Eigeninteresse. Ob er dabei gewinnt und andere entsprechend verlieren, muss ihn nicht unmittelbar kümmern – solange er sich an das Recht hält. Die Frage, ob sein Verhalten andern gegenüber gerecht sei, muss er sich erst gar nicht stellen. Gerechtigkeit ist keine Kategorie der Marktrationalität. So jedenfalls sieht es eine gängige Version des Liberalismus, welche den Menschen aufspaltet in einen Bourgeois, der sich nur um seine privaten Belange kümmert, und einen Citoyen, der sich als Bürger fühlt und „Politik macht“. Sogar in dieser Funktion wird dem Menschen aus dieser Sicht freilich oft unterstellt, dass er nur seinen eigenen Nutzen zu maximieren suche.

Das steht dann in einem merkwürdigen Widerspruch zur normativen Forderung an den Staat, von dem erwartet wird, dass er sich aller Eigeninteressen enthalte und nur einen fairen Rahmen für die Entfaltung privater Willkür schaffe. Der Staat müsse sich ganz auf Fragen der Gerechtigkeit beschränken. Er ist dann das Reich der Gerechtigkeit. Wie der Staat es schaffen soll, unparteiisch und gerecht zu sein, wenn die Menschen nur aus Eigennutz handeln können, ist daher aus dieser Sicht schwer zu erklären. Verständlich somit, dass dem Staat mit grossem Misstrauen begegnet wird. Das Misstrauen gilt freilich weniger dem Staat als dem eigenen Menschenbild.

Wir Menschen sind nämlich durchaus in der Lage, Nutzen und Gerechtigkeit zusammen zu denken und entsprechend zu handeln. Wir sind nicht nur auf Wettbewerb, sondern ebenso auf Solidarität ausgerichtet. Das gilt sowohl in der Wirtschaft wie in der Politik. Ein Unternehmen, das keine Kultur der gegenseitigen Hilfsbereitschaft unter der Belegschaft herstellen kann, zerfällt früher oder später. Eine Volkswirtschaft, welche nicht für einen starken Mittelstand sorgt, verliert irgendwann ihre Grundlage. Weitsichtige Unternehmer und Wirtschaftsführer sehen das ein und handeln danach.

Dass wir als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aufgerufen sind, solidarisch zu handeln, ist normativ einleuchtend. Es trifft ja zu, dass der Staat primär Aufgaben der Gerechtigkeit zu erfüllen hat. Spannend ist aber, dass sich beweisen lässt, dass wir tatsächlich dazu in der Lage sind, nach Gerechtigkeitsgrundsätzen und unter Hintanstellung des Eigennutzes zu entscheiden.

Schon die Tatsache, dass 80% der Schweizerinnen und Schweizer zumindest gelegentlich an Volksabstimmungen und Wahlen teilnehmen, ist ökonomisch irrational, weil der persönliche Nutzen, den uns diese Handlung bringen kann, in keinem vernünftigen Verhältnis zum Aufwand steht, den es uns abverlangt. Dass wir trotzdem abstimmen, zeigt, dass wir uns nicht nur als Interessenvertreter, sondern auch als Träger von Rechten und Pflichten verstehen. Bürger sein heisst, ein Amt ausüben – und das ist sowohl ein Recht wie eine Pflicht. Offenschlich ist die Pflichterfüllung auch eine hinreichende Motivation.

Ein zweites Beispiel sind Abstimmungen über Steuerfragen. Die Schweizer Stimmberechtigten haben auch schon aus zwei Varianten den höheren Mehrwertsteuersatz ausgewählt. Oft stimmen Gemeinden über die Anhebung des Steuersatzes für das kommende Rechnungsjahr ab und beschliessen die Erhöhung. Dabei werden nicht einfach die Reichen von den Armen überstimmt. Offenbar gibt es die Einsicht in die Notwendigkeit des eigenen Beitrags zum Gemeinwohl.

Das spannendste Beispiel ist freilich der Volksentscheid über die Verlängerung der Ladenöffnungszeiten. Das Volk hat in den allermeisten kantonalen Abstimmungen dazu nein gesagt. Dies, obwohl wir als Konsumentin und Konsument längere Ladenöffnungszeiten befürworten müssten. Auf Bundesebene steht uns nun ein Test bevor, mit dem wir unser Bewusstsein in Fragen des Nutzens und der Gerechtigkeit schärfen können: Der Bund will den Kantonen vorschreiben, den Läden die Öffnung von Montag bis Freitag mindestens von 6 bis 20 Uhr und am Samstag von 6 bis 19 Uhr zu gestatten. Begründet wird diese Deregulierung einerseits mit dem gesellschaftlichen Wandel – also dem Bedürfnis der Bevölkerung, zu späteren Abendzeiten einkaufen zu können. Anderseits kommt neu ein nationales Interesse hinzu:  Einkaufstourismus im Ausland werde durch die restriktiveren Ladenschlussbestimmungen in der Schweiz gefördert. Das bilde einen nachteiligen Standortfaktor für die Schweiz. Auch im Inland verzerrten die unterschiedlichen kantonalen Regelungen den Wettbewerb. Insgesamt berufen sich die Befürworter der Deregulierung auf das Wettbewerbsprinzip und die Rechtsgleichheit.

Auf den ersten Blick geht es also um mehr Gerechtigkeit. Näher besehen stehen dahinter aber reine Nutzenfragen. Die Argumente dienen den Interessen der Grossbetriebe in der Detailhandelsbranche, dem schweizerischen Binnenmarkt insgesamt und den Einnahmen des Bundes aus der Mehrwertsteuer. Vorgeschoben werden zwar die Interessen der Kundinnen und Kunden, die länger einkaufen möchten. Nur: Dann müsste man eine Pflicht zur Ladenöffnung einführen, damit wir darauf zählen können, dass die Läden auch tatsächlich offen sind. Wer die Chancengleichheit verwirklichen will, muss die Mindestzeiten zugleich zu Höchstzeiten machen – erst dann hätten alle in diesem Punkt die gleichen Rahmenbedingungen. Und warum dann nicht die Ladenschlusszeit herabsetzen, z.B. auf 19 Uhr? In Wahrheit geht es nur um ein Recht der Ladenbesitzer, so lange offen zu halten, als sich das für sie rentiert. Für wen die Rechnung aufgeht, entscheidet der Markt. Und der kümmert sich nicht um Gerechtigkeit, sondern nur um Interessen, die sich finanzieren lassen.

Es wird spannend sein, zu beobachten, was zunächst im Parlament und dereinst in der Referendumsabstimmung obsiegen wird: der Nutzen der Deregulierung im Markt oder die Gerechtigkeit gegenüber den Betroffenen. So oder so zeigt das Beispiel, dass die Entscheidung darüber, was alles vom Markt entschieden werden soll, eine Gerechtigkeitsfrage ist: Wir müssen zuerst unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten entscheiden, wie viel Spielraum wir dem Nützlichkeitsdenken gewähren wollen, bevor wir über Nutzen und Schaden einer Marktlösung befinden. Der Markt bedarf der Bewilligung durch den Staat. Als Staatsbürger entscheiden wir darüber, welche Freiheit wir als Wirtschaftende ausüben dürfen. Letztlich geht es bei der Ladenöffnung um die Gerechtigkeitsfrage: Wie viel Markt darf sein?

Dieser Text ist erstmals erschienen als Kolumne am 16. 11. 2012 in der Neuen Luzerner Zeitung.

Individuelle Texte sind nicht durch das Diskursverfahren von kontrapunkt gelaufen.

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