Messung der (Lohn-) Diskriminierung: Ist genauer auch richtiger?

Autorin/Autor:
Von Kontrapunkt* vom 4. März 2016

In den Medien wird periodisch diskutiert, ob der Unterschied zwischen Frauen- und Männerlöhnen in der Schweiz nun 21%, 19%, vielleicht 18% oder gar nur die Hälfte davon, also 8% oder 9% betrage. Vor allem scheiden sich die Geister darüber, was davon auf Diskriminierung zurückzuführen ist und was Diskriminierung überhaupt bedeutet. Gewichtige arbeitgeberseitige Organisationen wie Avenir Suisse oder das Centre patronal bringen ihre einseitig interessierte Lesart ein und greifen institutionelle Praktiken wie die Analysen des Bundesamts für Statistik oder die Praxishilfen des Eidgenössischen Büros für Gleichstellung (vor allem dessen Instrument LOGIB) als „umstritten“ an. (Zur Erinnerung: auch die anthropogene Klimaerwärmung oder die krebsfördernde Wirkung des Rauchens waren lange „umstritten“.)

Nun ist die kritische Betrachtung von Analysemethoden immer erwünscht, jedenfalls solange sie sachgemäss ist und mehr Klarheit über Aussagekraft und Grenzen der diskutierten Methoden bringt. Auch grössere Genauigkeit beim Messen von Tatbeständen erscheint a priori wünschenswert, besonders, wenn die Resultate politische Massnahmen beeinflussen.

Doch ist die rastlose Suche nach immer mehr Messgenauigkeit bei komplexen gesellschaftlichen Tatbeständen wirklich hilfreich zur Lösung der Probleme? Diese Frage stellt sich gerade auch für Lohnungleichheit und -diskriminierung. Dabei wird leicht vergessen, welche Komplexität in einem einfachen Prozentsatz ausgedrückt wird und ebenso, welche Fehlerquellen auf dem Weg von der Lohnrealität von Millionen LohnbezügerInnen bis zur Berechnung eines so einfachen Masses auftreten können. Individuelle Löhne und Arbeitssituationen werden zusammengemittelt, miteinander verglichen – etwa zwischen unterschiedlichen Branchen, Unternehmensgrössen oder Regionen – und hinsichtlich der Einflüsse verschiedener Faktoren analysiert. Viele der in solche Analysen eingehenden Werte können nicht mit derselben Genauigkeit gemessen werden wie ein einfacher Frankenbetrag oder ein Lebensalter in Jahren. Man muss sich vielmehr mit groben Kategorisierungen, subjektiven Schätzungen und allgemeiner mit sogenannten Indikatoren behelfen, also mit stellvertretender, indirekter Messung (beispielsweise Alter an Stelle von Berufserfahrung). Dadurch entstehen Unschärfen des Messens, die statistisch kaum abgeschätzt und noch weniger „behoben” werden können. Sie haben nichts mit berechenbaren Stichprobenfehlern zu tun und werden von diesbezüglichen Fehlergrenzen, wie sie gern im Zusammenhang mit Umfragen angegeben werden, nicht berücksichtigt, denn diese Unschärfen liegen nicht an den verwendeten Analysemethoden, sondern an den in sie eingehenden Einzelinformationen und ihrer Erfassung. Aufgrund dieser Überlegungen ist eine minimale Vorsicht etwa beim Vergleich von Diskriminierungszahlen zwischen Ländern, zwischen Branchen, zwischen Regionen oder auch über mehrere Jahre geboten, vor allem, wenn die resultierenden Differenzen klein sind.

Neben diesem messtechnischen fällt ein grundsätzlicher Vorbehalt noch stärker ins Gewicht. Lohndiskriminierung kommt nicht isoliert vor und kann deshalb nicht angemessen als ein in sich geschlossenes Phänomen untersucht werden. Sie ist vielmehr Teil eines vielgestaltigen Systems der Ungleichbehandlung, dessen einzelne Elemente so ineinander greifen, dass beispielsweise der Abbau einer Diskriminierungsform durch die Verstärkung einer anderen neutralisiert werden kann und deshalb die abgebaute nicht spurlos verschwindet. Das ist etwa dann der Fall, wenn die Lohnansätze für Männer und Frauen tatsächlich gleich werden, aber Frauen mit gleicher Qualifikation hierarchisch weniger hoch eingestuft werden als Männer, oder wenn Frauen systematisch schlechtere Leistungs- und Potentialbeurteilungen erhalten. So ist ein Teil der Lohndiskriminierung auf Beförderungsdiskriminierung zurückzuführen. Soll man deshalb darüber jubeln, dass dementsprechend die „reine“ Lohndiskriminierung geringer ist? Es ist angemessener, Lohndiskriminierung nicht allein, sondern als Teil der gesamten Geschlechterverhältnisse zu betrachten. Dabei ist auch nicht aus den Augen zu verlieren, dass Lohndiskriminierung am „end of the pipe“ steht: sie resultiert direkt und indirekt aus vielfältigen vorgeschalteten Diskriminierungs-, teilweise auch  Kompensationsprozessen und „misst“ deshalb nicht diese Prozesse selbst.

Je stärker die öffentliche Aufmerksamkeit auf das dezimalstellengenaue Ausmass von Lohndiskriminierung konzentriert wird, auch durch Polemiken darüber, desto weniger erscheint die reale Komplexität der Situation auf dem Radar. Man beschäftigt sich mit hyperkonkreten Messfragen eines einzigen, wenn auch unzweifelhaft wichtigen Elementes – es ist immerhin verfassungswidrig – und nicht mehr mit den manchmal subtilen, manchmal eher handfesten, meistens aber wenig sichtbaren sozialen Vorgängen, welche die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in ihrer Vielgestaltigkeit hervorbringen. Solche Sichtverkürzungen verführen auch dazu, zentrale Begriffe wie Diskriminierung auf ihre subjektive und individuelle Seite zu reduzieren – als gäbe es Lohndiskriminierung nur, wenn sie aus einem klar formulierten Diskriminierungswillen identifizierbarer Einzelpersonen resultiert, wie dies kürzlich der Direktor von Avenir Suisse behauptete.

Das Streben nach mehr Messgenauigkeit hat insofern sein Gutes, als es zur deutlicheren Wahrnehmung der Lohndiskriminierung führen kann. Ihr – noch keineswegs realisiertes – Verschwinden würde jedoch noch nicht bedeuten, dass Chancengleichheit erreicht ist. Im Extremfall wäre es beispielsweise denkbar, dass in einer völlig geschlechtersegregierten Unternehmung (oder Verwaltung, oder öffentlichen Einrichtung) perfekte Lohngleichheit herrscht, aber in keiner Weise Chancengleichheit. Genauso wichtig sind gleiche Aufstiegschancen, gleiche Weiterbildungsmöglichkeiten, wirklich geschlechtsunabhängige Leistungs- und Potentialbewertungen, uneingeschränkte Einstiegsmöglichkeiten in geschlechts-atypische Berufsfelder usw. – und diese kleine Aufzählung beschränkt sich erst auf die Welt der Arbeit! Wer immer wirklich Chancengleichheit der Geschlechter einführen will, muss deshalb sein Augenmerk nicht nur auf die Löhne, sondern auf alle Diskriminationsaspekte gleichzeitig richten.

Die Unmöglichkeit, gesellschaftliche Verhältnisse mit letzter Präzision zu beziffern, verringert nicht ihre Realität. Sie allzu genau messen zu wollen, droht dagegen, zu „Konkretinismus” zu führen, zur Blindheit gegenüber komplexen Zusammenhängen, ohne deren Berücksichtigung praktisches, auch politisches Handeln seine beabsichtigten Wirkungen verpassen muss.

Dies gilt im Übrigen nicht nur für Lohndiskriminierung, sondern viel allgemeiner für die Zahlen- und Zählmanie, die sich als Folge der Ausbreitung neuer Steuerungslogiken, die wesentlich auf empirischer Evidenz basieren, im öffentlichen  Raum ausbreitet. Solche Entwicklungen werden u.a. durch das New Public Management, durch Management by (quantifiable! – RL) objectives, den Druck auf die internationale Vergleichbarkeit und den Ausbau anwendungsnaher und nutzenorientierter Forschung gefördert.[1] Viele gut gemeinte Bemühungen, faktenbasiertes Management oder entsprechende  Politik zu betreiben, führen im Endeffekt dazu, dass die Optimierung der Indikatoren wichtiger wird als das Erreichen inhaltlich definierter Ziele. Der einfache Grund dafür ist vor allem, dass viele relevante gesellschaftliche Tatbestände nicht ohne weiteres quantifizierbar sind. Die vielerorts obligatorisch gewordene, unhinterfragte Anwendung solcher Methoden droht zu einer gesteuerten, selektiven Nutzung von Wissen zu führen, für die Messgrössen wichtiger sind als die Qualitäten und Zusammenhänge, die gemessen werden sollen.


[1] Vgl. u.a. Alain Soupiot, La Gouvernance par les nombres. Fayard, Paris 2015.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Prof. Dr. Michael Graff, Volkswirtschafter, ETH Zürich; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; PD Dr. Thomas Kesselring, Universität Bern; Prof. em. Dr. Philippe Mastronardi, Öffentlichrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Hans-Balz Peter, Sozialethiker und Sozialökonom, Universität Bern; Prof. Dr. HSG Gudrun Sander, Betriebswirtschafterin, Universität St. Gallen; Prof. Dr. Christoph Stückelberger, Wirtschaftsethiker, Universität Basel; Prof. em. Dr. Peter Ulrich, Wirtschaftsethiker, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Mario von Cranach, Psychologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. em. Dr. phil. Theo Wehner, ETH Zürich, Zentrum für Organisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel.

Comments are closed.