Migros, Coop und ihre Marktanteile: andere Formen der Marktmacht sind gefährlicher

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Von Kontrapunkt* vom 15. Oktober 2007

Die geplanten Übernahmen im Detailhandel haben vielfach Kritik ausgelöst; man sorgt sich nicht zu Unrecht um den Wettbewerb, als den (in  wirtschaftsliberaler Sicht) Kern und Angelpunkt wirtschaftlicher Gerechtigkeit. Die Diskussion dreht sich dabei vor allem um den Marktanteil der beiden Unternehmen, und man fordert das Eingreifen der Wettbewerbskommission, um zum Wohle der Verbraucher ein Duopol zu verhindern. Nun ist es gewiss richtig, dass die Macht der beiden Grossunternehmen, sowohl gegenüber ihren Lieferanten als auch Kunden, bereits sehr gross ist und nicht ungebremst weiter wachsen sollte. Ihre Diversifikation in andere Bereiche, z.B. das Bankwesen oder den Tourismus, tragen zu dieser Sorge bei. Man sollte aber nicht übersehen, dass andere  Formen der Ausübung von Marktmacht und ihre Folgen wesentlich gravierender sein können, vor allem deshalb, weil sie die demokratische Ordnung unterlaufen, den Bürgern und Konsumenten  der Schweiz oder anderer Länder und Erdteile schaden, und beides in weniger offensichtlicher Weise; und dass die Mängel der globalen Wirtschaftsordnung dazu massiv beitragen. Dazu im Einzelnen:

1. Strukturierung des Marktes nach eigenen Interessen

Marktmacht manifestiert sich nicht nur in der  Wettbewerbsfähigkeit im gegebenen Markt. Vielmehr verstehen es wirklich mächtige Unternehmen und Wirtschaftsverbände, den Markt und das gesellschaftliche, politische und rechtliche Umfeld, in dem sie tätig sind, nach ihren Bedürfnissen so zu gestalten, dass sie von vornherein im Vorteil sind (denn grundsätzlich lieben Unternehmen den Wettbewerb nicht).

Wichtige Mittel dazu sind: Grossunternehmen und Wirtschaftsverbände pflegen  ihren Markt erfolgreich zu gestalten, indem sie durch professionelles und effizientes Lobbying und andere Mittel Politik und Gesetzgebung beeinflussen. Sehr häufig verfügen sie direkt über Vertreter in den Parlamenten; man erinnere sich, dass Migros-Gründer Duttweiler sich seinerzeit eine eigene politische Partei, den „Landesring der Unabhängigen LDU“ schuf, oder betrachte die Interessenbindungen vieler heutiger Parlamentarier. Ein anderes Mittel ist der auf öffentlichem Ansehen, Tradition und guter Öffentlichkeitsarbeit beruhende psychologische Einfluss auf die Kunden als Bürger, der sich politisch verwerten lässt.

Bekannte Beispiele für die erfolgreiche Strukturierung des Schweizer Marktes durch Unternehmen und Verbände im Sinne ihrer Interessen sind etwa die Ausgestaltung des Bankgeheimnisses, das sich fast einen Platz in der Bundesverfassung erobern konnte, oder das Verbot von Parallelimporten patentgeschützter Güter. Auch die  notorische Schwäche der Wettbewerbskommission können die Wirtschaftsverbände als Erfolg verbuchen. Und was die beiden Grossverteiler selbst anbelangt, so haben sie sich zeitweilig sehr aktiv für die Beseitigung des Verbandsbeschwerderechts eingesetzt, um leichter neue Einkaufszentren errichten zu können.

2. Schwache Wettbewerbskontrolle im globalen Markt 

Wissenschaftler, Politiker und Medien haben uns mit dem Gedanken vertraut gemacht, die Welt als globalen Markt zu betrachten. Aber die globale Wettbewerbskontrolle ist nur schwach ausgebaut, der Wettbewerb dort grossenteils eine Art Freistilringen.

Die WTO sieht ihre Aufgabe vorwiegend darin, staatliche Wettbewerbshindernisse zu beseitigen. Wie das Beispiel des Agrarhandels zeigt, kann sie sich dabei gegenüber wirtschaftlich starken Ländern nur schwer durchsetzen. Jedenfalls kümmert sie sich nicht um Unternehmen. Die Wettbewerbsbehörden der USA und der EU beeinflussen aufgrund der Stärke ihrer Wirtschaftsgebiete zwar das Geschehen auch auf dem übrigen Weltmarkt. Aber in weiten Gebieten des globalen Marktes scheint es keine Richter, also auch keine Kläger, also auch keinen fairen Wettbewerb zu geben. Eine eigentliche internationale Wettbewerbsbehörde fehlt. (Auch das könnte zur Grösse und Macht mancher Schweizer Unternehmen beigetragen haben – mehr zu unserem materiellen als moralischen Vorteil.)

Wer sich nun, auch aus liberaler Gesinnung, Sorgen um den heimischen Wettbewerb macht, sollte die Augen vor den weniger offensichtlichen Formen der Ausübung  wirtschaftlicher Macht nicht verschliessen.

* Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt mitunterzeichnet:
Der Autor ist emeritierter Professor der Universität Bern, wo er bis 1996 einen Lehrstuhl für Sozialpsychologie innehatte. Er hat den vorliegenden Artikel im Rahmen von kontrapunkt erarbeitet. kontrapunkt, der zurzeit 30-köpfige „Schweizer Rat für Wirtschafts- und Sozialpolitik“, entstand auf Initiative des „Netzwerks für sozial verantwortliche Wirtschaft“. Die Gruppe will die oft unbefriedigende und polarisierende öffentliche Diskussion über politische Themen durch wissenschaftlich fundierte, interdisziplinär erarbeitete Beiträge vertiefen. kontrapunkt möchte damit übersehene Aspekte offen legen und einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leisten. Diesen Text haben folgende Mitglieder von kontrapunkt unterzeichnet: Prof. Beat Bürgenmeier, Universität Genf; Prof. Dr. Jean-Daniel Delley, Politikwissenschafter, Universität Genf; Dr. Peter Hablützel, Hablützel Consulting, Bern; Prof. Dr. Hanspeter Kriesi, Politikwissenschafter, Universität Zürich; Prof. em. Dr. René Levy, Soziologe, Universität Lausanne; Prof. Dr. Philippe Mastronardi, Staatsrechtler, Universität St. Gallen; Prof. em. Dr. Peter Tschopp, Volkswirt, Universität Genf; Prof. Dr. Karl Weber, Soziologe, Universität Bern; Prof. Dr. phil. Theo Wehner, Zentrum für Organsisations- und Arbeitswissenschaften (ZOA), Zürich; Daniel Wiener, MAS-Kulturmanager, Basel; Prof. em. Dr. Hans Würgler, Volkswirtschafter, ETH Zürich. Internet: www.rat-kontrapunkt.ch
Kontakt: kontrapunkt-Geschäftsstelle, c/o ecos, 4001 Basel, Daniel Wiener, Tel. 061 205 10 10.

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